Belästigungen 11/2016: Wie man mit einem Blatt Papier das Universum der düsteren Einsamkeit zum Platzen bringt

Daß das bestimmende Gefühl des modernen Lebens die Einsamkeit ist, wirkt auf den ersten Blick etwas paradox, schließlich gab es nie zuvor in der Menschheitsgeschichte ein solches Gerödel von angeblicher Kommunikation, von sogenannten Kontakten, trällernden Events und öffentlichem Rumsbums. Aber dann kommen zum Beispiel ein paar Eisheilige daher und schleudern einen in den Winter zurück, und man sitzt an schwarzgrauen Fenstern und starrt hinaus in eine Düsternis, die sich ins Unendliche zu dehnen scheint. Und man ist: einsam.

Daß der moderne Mensch so impertinent einsam sich zumindest fühlt, mag auch daran liegen, daß er kein samtiges, schützendes Himmelszelt mehr über sich weiß, unter dem sich die Welt und er als Mittelpunkt eines beschaulichen Weltenraums gemütlich dahindreht. Vielmehr ist das Universum ein unfaßbar gewaltiges geworden, gefühlt unendlich und mindestens grenzenlos. Der nächste Nachbar ist nicht mehr ein gütiger älterer Herr mit Rauschebart, der mit treusorgendem Auge über die Fährnisse des Erdballs wacht, sondern ein höchstens denkbarer Alien, der irgendwo in der Andromedagalaxis herumschwirrt und, wenn er sein Fernglas auf die Erde richtet, dort eine zweieinhalb Millionen Jahre alte, menschenleere Ursuppenidylle erblickt, die er unter „Kurioses“ ablegt.

Aber der moderne Mensch braucht den Blick gar nicht zum Himmel zu richten. Auch seine ganz irdische Existenz ist durch und durch erfüllt von Einsamkeit. Das fängt in der Tagesstätte an, wo man ihn abliefert, weil Mama und Papa arbeiten müssen, um weiterhin existieren zu dürfen. Das geht in der Schule weiter, wo man ihn von Schulstunde null an darauf drillt, sich von fiesen Rivalen umringt zu sehen, die ihm den Job, den er später mal braucht, um weiter existieren zu dürfen, wegnehmen wollen. Dann muß er, weil er sonst nicht arbeiten darf, auch noch auf eine Hochschule, wo er wiederum gegen sämtliche Konkurrenten um den besten Feinschliff zum Humankapitalmenschenmaterial ringt. Und schließlich darf er dann endlich arbeiten (was er im günstigsten Fall inzwischen tatsächlich als „dürfen“ empfindet) und stellt fest, daß es auch dort nur so wimmelt von „Wettbewerbern“, die notfalls im selben Zimmer sitzen.

Zu Hause und in der Welt, die ihm sowieso nur per Fernseh und Fernreise als leichtverdauliches Fertiggericht mit bitterem Nachgeschmack vorgesetzt wird, ist’s nicht anders: Da wird er bombardiert mit Fiktionsgeschichten über Einzelkämpfer mit Schußwaffe beziehungsweise Singmikrophon, mit Nachrichten über Explosionen, Krisen, Krieg und Terror in einer globalen Wüste von Elend und Einsamkeit. Wo ausnahmsweise niemand kämpft, geht die Welt kollateral zugrunde, wirbeln Müllstrudel in radioaktiven Ozeanen, verfällt und verfault all das, was als virtuelle Simulation auf dem Freizeitbildschirm flimmert. Deprimiert stellt der moderne Mensch fest, daß dagegen nichts zu machen ist: Gewerkschaften und Parteien, die einst mit solidarischem Auftrumpfen sein Arbeitselend zu lindern versuchten, gibt es nicht mehr, und für jeden Joghurtdeckel, den er zur Rettung einer längst vergangenen Natur in den Container trennt, haut jemand eine Autobahn, einen Blechbetonklotz oder eine Giftfabrik ins kaputte Grün oder knallt eine Reklamegala in den TV-Kanal, bei deren Gesamtaufwand es wurst ist, ob die prekarisierten Putzleute hinterher hunderttausend oder eine Million leere Plastikbehälter zusammenkehren. So sucht er warme Heimeligkeit am Ofen einer gemeinsamen Überzeugung, hegt brav und eifrig vorgestanzte „Meinungen“ über Putin, arbeitsscheues Gesindel und den Islam und wählt von allen Parteien, die seine Ausbeutung und Entwürdigung vorantreiben, ausgerechnet die, die dabei am vehementesten vorgehen, weil sie ihm als Entschädigung immerhin einen heimelig-warmen Platz an der Sonne der völkischen Nation versprechen.

Weil er den einsamen Parcours durch das Mahlwerk von Konkurrenz und Fitwerdungszwang irgendwann nicht mehr aushält, braucht der moderne Mensch eine Begleitung für eine genormte Zweiermodellkiste in einem genormten Wohnbehältnis, die er sich am besten per Internetlogarithmus zuteilen läßt und die auf jeden Fall mit seinen Existenzumständen und -bedingungen wechselseitig kompatibel sein muß. Mit der fährt er in ein genormtes Fernreiseresort, kauft ein Auto, zeugt ein Kind, stellt fest, daß er davon insgesamt noch einsamer geworden ist, trennt sich folglich einvernehmlich und probiert das gleiche mit einer neuen Existenzabschnittsbegleitung, auf die die nächste folgt, und so weiter, bis er endlich nicht mehr mithalten kann mit dem fitteren Nachwuchs, an Maschinen angeschlossen wird und den dringenden Drang verspürt, die allumfassende Produktions- und Verwertungsmaschine von dem unnützen Anhängsel, als das er sich betrachten muß, zu befreien, um dem weiteren Aufschwung nicht im Weg zu stehen. Auch dieser letzte Akt ist ein einsames Geschäft, notfalls schalten sich die Geräte von selbst ab, und was übrig bleibt, sind ein paar warenmäßig handelbare Innereien.

Auf solch trübe Gedanken gerät man, wenn die Eisheiligen mal wieder besonders vehement auftrumpfen, sich von der Viererbande zur veritablen Big Band verstärken und schon das mittägliche Aufstehen aus dem Bettlager zur niederschmetternden Kraftanstrengung machen. Wenn man nicht mal anständig frustfressen kann, weil die Küche wegen eines unerwartet eingetretenen Feiertags nur noch eine Zitrone bereithält, die vor Überdruß verschimmelt ist.

Aber dann kitzelt ein verirrter Sonnenstrahl das Hirn, und plötzlich blitzt da etwas auf: Man muß das alles ja nicht, man kann es ja lassen, einiges davon sogar verhindern, vor allem die Einsamkeit und dann alles weitere. Und hin und wieder genügt dafür ein Lächeln, ein Lachen, ein Achselzucken, eine Umarmung, ein Traum und die Erkenntnis, daß es das meiste von dem bedrohlich dräuenden Zwangselend in Wirklichkeit gar nicht gibt.
Und wenn dann von droben über dem Himmel die dunkle, düstere Fastunendlichkeit dahergrollt und einem die Faxen auszutreiben trachtet, dann hilft dagegen eine ganz simple Rechenaufgabe: Man braucht bloß ein Blatt Papier ungefähr hundertmal falten, schon ist es dicker als das gesamte Universum. Wie, das geht gar nicht? Das hätte ein mittelalterlicher Schulmeister über Facebook, McDonald’s, die Mondlandung und die Atombombe auch gesagt!

Vielleicht probieren wir’s einfach mal. Zumindest geht es: in Gedanken, da geht alles. Ätsch.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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