Wenn der Herbst kommt und Menschen wie ich in Züge steigen, um kreuz und quer durch Deutschland zu fahren, Texte vorzulesen und mit lustigen Menschen Bier zu trinken, geraten diese Menschen irgendwann in einen leicht surrealen Gemütszustand. Nämlich reist man weitenteils mit dem Zug heutzutage nicht mehr durch Deutschland, sondern durch Tunnels, dunkle unterirdische und graugeblechte oberirdische aus Lärmschutzwällen.
Die eigentümlich melancholische Monotonie dieses Anblicks wird nur ganz hin und wieder unterbrochen von Vorführungen zeitgenössischer Architektur, mit der man jene Landschaften vollmüllt, wo die Menschen abgelagert werden, die sich noch keine Tunnels und/oder Lärmschutzwälle leisten können. Das ist dann fast noch melancholischer: daß es Menschen gibt, die sich tagsüber damit beschäftigen, Landschaften und andere schöne Dinge kaputtzumachen, und sich abends darauf freuen müssen, in diese dicht gepackten Haufen von in Reih und Glied stehenden Schreckenskisten einzubiegen, sich dort vor den Fernseh zu setzen und zur Erfrischung und geistigen Ertüchtigung drei Stunden lang Börsenkurse, Wirtschaftsdaten und andere Propaganda anzuglotzen. Wenn sie Glück haben, zeigt man ihnen dann noch (mit einem fast hörbar deutlichen „Ätsch!“) eine warenförmige Beziehungsanbahnung in irgendwelchen Geldadelsfamilien samt spaßiger Verwechslung und Hundegekläff am Frühstücksbuffet, von der sie den Schluß verschlafen.
Das sind so Gedanken, auf die man da kommt. Dann kommen wieder Tunnels und Lärmschutzwälle, und weil das auf irgendeine ironische Weise digitale Hell-Dunkel-Spiel das Lesen von Büchern äußerst strapaziös macht und man die lächerlichen Geschäftsmails des krawattierten Sitznachbarn längst auswendig kennt, klappt man halt das Realitätssurrogatgerät auf und schaut sich mal wieder „Fight Club“ an (wobei der Nachbar plötzlich doch die Armlehne freigibt, wenn man an den richtigen Stellen leise dissidentisch kichert).
Apropos. Ich mag „Fight Club“ irgendwie (zumindest gefällt mir, daß ich alle drei Jahre den Schluß vergessen habe und den Film drum ganz ohne Spoiler noch mal anschauen kann). Was mich aber immer wieder verwirrt, ist die seltsame Moral, die da offenbar (oder scheinbar, bis zum Schluß eben) transportiert werden soll.
Nämlich: Da haben wir erst mal einen (auf diffuse Weise) schlechten Menschen, eine Art Berufsverbrecher, der sein Geld damit verdient, daß er einer Autofirma hilft, Profit zu machen, indem Mängel an ihren Produkten vertuscht werden, die unzählige Menschen ihr Leben kosten. So was wie Beihilfe zum Massenmord also. Oder mindestens Totschlag, ich will mich da nicht festlegen.
Dieser schlechte Mensch (Obacht, jetzt kommt der Spoiler für Leute, die den Film noch gar nicht kennen:) verwandelt sich mittels einer ausgeklügelten Schizophrenie in einen (auf sehr diffuse Weise) guten Menschen, der reichen Säcken in die Muschelsuppe pinkelt, aufs Dessert furzt, ihnen ihr abgesaugtes Arschfett als Luxusseife verkauft, mit Billigramsch vollgestellte Betonkisten sprengt, diesen und jenen weiteren konsumkritischen Schabernack treibt und schließlich den wahrhaft messianischen Plan faßt, die Kreditkartenschulden sämtlicher Amerikaner durch Nitroglyzerin zu löschen.
So weit, so gut. Dann aber wird sich der Mensch plötzlich seiner Schizophrenie bewußt, und nun bildet er sich auf einmal ein, es sei gar nicht so gut, den Gesamtschuldenstand einer Gesellschaft auf Null zu stellen (woran man übrigens merkt, daß der Film älter ist als David Graebers Buch „Schulden“). Nein, das sei sogar äußerst verwerflich und müsse um jeden Preis verhindert werden, notfalls indem man sich selbst in den Kopf schießt.
Zum Glück schlägt der Film seinem Hauptdarsteller ein Schnippchen (dem darob erfreuten Zuschauer allerdings auch, so daß man am Ende gar nicht mehr recht weiß, wer hier eigentlich verarscht wird, und sich lebhaft vorstellen kann, wie über den Schnitt des Finales diskutiert wurde). Aber die Frage schwebt weiter im Vakuum zwischen Tunnelwänden und Lärmschutzwällen: Warum entsetzt es den Menschen stets, wenn etwas Häßliches, Verderbliches, Tödliches kaputtgemacht wird, während er ungerührt zuschaut, wie Jahr für Jahr, Tag für Tag, Sekunde für Sekunde alles Schöne an der Welt, in der er zu leben träumt, systematisch zerstört und nach und nach vernichtet wird?
Weshalb – nur als Beispiel – darf die bayerische Staatsregierung einfach so beschließen, das weltweit unvergleichliche Isental durch eine Autobahn für alle Zeiten zu beseitigen? Wieso darf irgendein Immobilienkonzern die ebenfalls unwiederbringliche Eggartensiedlung abreißen und mit Beton vollstellen? Und warum ist es andererseits so absolut undenkbar, in Eigenregie und Selbsthilfe derartiges zu verhindern oder die derart verbrecherisch erstellten Verschandelungen ihrerseits wieder wegzumachen?
Liegt das wirklich nur daran, daß ein Auto, eine Fabrik, ein Betonklotz, daß all dieses Zeug einen Geldwert und somit im Kapitalismus selbstverständlich auch einen Eigentümer beziehungsweise Besitzer hat, den man durch das Kaputtmachen „schädigen“ würde (obwohl ja auch er vermutlich unter der Verwandlung der Welt in eine Müllhölle leidet), während Schönheit einfach da ist (oder mal war) und sich weder kaufen noch verkaufen läßt, also auch niemandem gehört und frohgemut verwüstet werden darf?
Möglicherweise. Wenn dem so ist, ist es aber vermutlich Teil der menschlichen und damit insgesamt: der Natur. „Diese Spezies“, werden findige Forscher dereinst feststellen, „fand größten Gefallen daran, ihr Habitat in Klump und Asche zu hauen und sich damit selbst auszurotten. Ob diese gesamtsuizidale Neigung genetisch bedingt war oder durch die Beschallung mit Scorpions-Musik ausgelöst wurde, läßt sich leider nicht mehr feststellen.“
Und daß man bei derlei Gedanken zwischen den Wänden, Wällen und Würfelhaufen Lust kriegt, doch mal wieder ein bißchen harmlos scheppernde Sabotage zu veranstalten – das schreibt man lieber nicht hin. Man will den Nachbarn ja nicht erschrecken; der ist auch bloß ein Mensch, der seiner Bestimmung folgt.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.