Belästigungen 21/2015: Warum der Mensch ein Eichkatz ist (und weitere wirre Herbstgedanken)

In unserem Hof wohnt Herr Eichkatz. Daß es sich um einen männlichen Vertreter der Spezies Sciurus vulgaris handelt, schließe ich aus einer gewissen Irrationalität seines Verhaltens. So feiert er etwa den Anblick der täglichen Nuß auf dem Fensterbrett mit einem Tanz, der wie eine hyperbeschleunigte Mischung aus Fußballerjubel und Hardrockfestivalgymnastik (Gitarrensolo!) wirkt – von weiblichen Gattungsvertretern zumindest des Menschen kennt man exzessive Bewegung eher in der militärisch-straffen Fitneßstudiovariante.

Indes schnappt sich Herr Eichkatz die Nuß nicht etwa zum Zwecke des Verzehrs; vielmehr trägt er sie quer durch den Hof vors Fenster der Nachbarin, wo der Topf mit meiner Blumenerde steht, gräbt sie dort ein und vergißt sie augenblicklich.

Weil die typische Nußzeit (der Herbst) auch die Zeit des Umtopfens ist, kommt es derart immer mal wieder zu einem lustigen Spiel: Herr Eichkatz gräbt die Nuß ein, ich grabe sie wieder aus, lege sie erneut aufs Fensterbrett, er gräbt sie wieder ein und so weiter und so fort, bis ihn irgendwann doch einmal ein plötzlicher Hunger (oder möglicherweise auch der Trotz) befällt.

Wenn Herrn Eichkatz bei diesem Spiel niemand assistiert, hat die Sache Folgen, die sich zum Beispiel im Münchner Norden anschaulich zeigen: Weil dort die Immobilienmafia besonders tüchtig ihrem Geschäft nachgeht, leerstehende Häuser und Grundstücke verfallen und verwahrlosen zu lassen, um sie eines Tages ruhigen Gewissens und mit Duldung der Behörden abreißen und darauf neue Betonkäfige für mobiles Ausbeutungsmaterial erstellen zu dürfen, hat der Eichkatz absolut freie Bahn, muß aber ohne Spielgefährten auskommen. Da rast er dann herum, sammelt tonnenweise Nüsse, vergräbt sie beliebig in Gärten und Brachen und vergißt sie sofort – für die Auffindung und das erneute Servieren wäre ja der Mensch zuständig, aber der fehlt, weil er in solchen Gegenden mangels trendig-urbaner Konsumgelegenheiten nichts verloren hat.

So kommt es, wie es kommen muß, und nach wenigen Jahren hat sich, vom Klimawandel begünstigt, ein einstmals gepflegtes Kraut-und-Rüben-Gärtchen in einen undurchdringlichen Wald von Nußbäumen samt Haselgestrüpp verwandelt, in dem ein wildes Volk von Eichkätzchen herumschwirrt, -hüpft und -wirbelt und unablässig Nüsse vergräbt, bis … ja, bis was? Bis eines Tages ein weiser Artgenosse daherkommt und Aufkleber verteilt mit der Aufschrift: „Erst wenn der letzte Grashalm verkümmert, der letzte Sonnenstrahl verschattet und der letzte Pilz im Wurzelgewirr vertrocknet ist, werdet ihr feststellen, daß man Bäume nicht essen kann“?

Ich ahne, wie sich da ein kapitalismuskritischer Hintergedanke einschleicht und den süßen Herrn Eichkatz zur Allegorie umfunktionieren möchte, um vor dem Untergang der Welt zu warnen und zu Ein- und Umkehr zu mahnen. Aber nein, umkehren ist auf Einbahnstraßen nicht erlaubt, die Welt geht sowieso unter (zumindest für den Menschen), und im übrigen ist der Herbst die Zeit der großen Heimkehr, in der sich unter anderem erweist, daß auch der Mensch nicht mehr ist als ein Eichkatz mit Schulabschluß und Monatskarte (für was auch immer).

Nämlich kehrt im Herbst nicht nur der Mensch von Badestrand und Biergarten in die Wohnung zurück, sondern auch die Pflanzen, die den Sommer über auf Freigang im Hof waren, und wie immer steht man dann fassungslos in Zimmertüren und fragt sich, wie es sein kann, daß dieses wuchernde Volk dermaßen gewuchert ist, daß man kaum noch an Kleiderschränke und Bücherregale heran, ja eigentlich gar nicht mehr ins Zimmer hineinkommt.

Dabei ist das recht leicht zu erklären: Wie der Eichkatz schätzt auch der Mensch das Spiel mit den Kernen, von denen im Verlauf eines Jahres ziemliche Mengen anfallen: Mango, Traube, Avocado, Paprika, Mirabelle, Passionsfrucht, Melone, Marone, Dattel, Pfirsich, Papaya, Quitte, Orange, Mandarine, Granatapfel, Kaki, Birne, Zitrone, Holler, Beere, selbst die naturgemäß dem Eichkatz zustehende Restnuß oder -marone und notfalls auch mal ein vertrocknetes Stück Ingwer oder Kurkuma – alles vergräbt er in hübschen Töpfchen, stellt es in den Hof, vergißt es sofort wieder und wundert sich hinterher, was da so alles gesproßt, geschossen, getrieben und gefruchtet hat beziehungsweise ist. Und schon ist der Herbst da, und die Wohnung steht voll mit Bäumen, Sträuchern, Palmen, Büschen, die munter ihr Laub in alle Ecken streuen und zur winterlichen Zerstreuung ein Massenheer von Trauermücken, Blattläusen, Käfern und anderem Gekreuch und Gefleuch mit sich führen.

Da es kein feinfühliger Mensch übers Herz bringt, wehrlose Pflanzen zu meucheln (abgesehen vielleicht von den unseligen Kreaturen aus dem Bau- und Möbelmarktsortiment vom Buchsbaum bis zum Ficus), die zudem ja möglicherweise eines Tages reiche Ernten liefern werden (ein ewiger Phantasietraum, wie einem alljährlich bewußt wird, wenn man nach Monaten fürsorglicher Hege seine fünf krumpeligen Tomaten einsammelt), akkumuliert sich die Biomasse immer weiter, bis der Mensch endlich in eine größere Behausung umziehen muß, um seinem Wald ausreichend Auslauf zu bieten.

So transformiert sich der Planet: Wälder, einst eine Art kontinentaler Pelz unter freiem Himmel, bewohnen Gebäude, während Mensch und Eichkatz draußen herumturnen. Und der Sinn des ganzen Irrsinns? Und die Moral? Wer weiß. Vielleicht dient all das nur dazu, zu begreifen, daß die so oft beklagte Vergeblichkeit aller Mühen doch keine ist, zumindest aus bäumisch-evolutionärer Sicht.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. 

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen