Im späten Oktober und frühen November kommt die Welt langsam zum Erliegen, und in den Lücken und Rissen der fransig werdenden Entwicklung tauchen alte Gesichter auf, was nicht immer unbedingt erfreulich ist. Wer mag und entsprechend gestimmt ist, kann den ganzen Winter in Reminiszenzen baden – neue Alben von Prince, Lenny Kravitz, Farin Urlaub, Bob Seger, Pink Floyd, AC/DC, Holly Johnson bieten hinreichend Material zur Fortsetzung oder Wiederaufnahme verwehter Jugendlichkeiten diverser Art als nicht immer lustige Farce, und selbst Billy Idol ist als gebleichter Barbie-Ken aus dem Formaldehydkessel erstanden, um noch mal so zu tun, als wäre er Billy Idol.
Es ist nun mal (leider) so, daß Popmusik (wie auch immer man sie nennt) einer schwammig definierten, aber insgesamt recht eindeutigen Generation an- und zugehört und auf gewisse Anhaltspunkte nicht verzichten kann. Dazu gehört die Behauptung, man sei irgend etwas „immer noch“ und werde ganz bestimmt nie alt oder anders. Die Frage, wieso sich die nostalgische Sehnsucht nach dem unschuldigeren Selbst früherer Zeiten mit dem größtenteils fürchterlichen Affentheater älterer (seltsamerweise meist) Herren, die keine älteren Herren sein wollen, besser bedienen lassen sollte als mit den dadurch desavouierten und mit dem Schlammlack der Lächerlichkeit übergossenen Originalen (in Super-Deluxe-Edition), ist schwer zu beantworten. Es muß eben weitergehen, und da den Jüngeren Popmusik so viel bedeutet wie Popcorn, hofft man auf Mythen vom Opa, der notfalls mit Glubschbrille, Perücke und Gehwägelchen Freiheit, Sex und Rebellion perpetuieren muß.
Streng genommen gehört auch Thurston Moore zu dieser Riege der Ewig(gleich)en: Er ist 1958 geboren, hat ungefähr eine Fantastilliarde Platten veröffentlicht und, wie man so sagt, mindestens ein „Genre“ „geprägt“. Schwer zu sagen, weshalb bei ihm dennoch alles anders ist – vielleicht hat er als Jugendlicher die richtigen Vorbilder (Wire, Public Image Ltd., The Pop Group) und Lehrer (Glenn Branca) gewählt, vielleicht einfach zu viel gemacht, um sich festlegen zu lassen. Möglicherweise half und hilft ihm seine Neugier, und mit Sicherheit ist es diese beständige Lust auf Annäherung an das Geheimnis, das tief verborgene Herz der Musik als direkter Expression wahrer Empfindung, und zugleich Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten innerhalb eines streng beschränkten Instrumentariums und Umgangs damit (eine Gitarre, offen gestimmt und elektrisch verstärkt, deren Zwei-, Drei- und Vielklänge sich in freier Oszillation zu sprachfernen Erzählungen sammeln), was ihn antreibt und verhindert, daß er wie die eingangs genannten Protagonisten zur One-Trick-Gipsfigur erstarrt.
Es war und ist nicht immer leicht, die bisweilen scheinbar achtlos an den Wegrand geschmissenen Ergebnisse von Thurston Moores Suche zu genießen; frühe Aufnahmen seiner Band Sonic Youth mögen selbst einigermaßen geübten Ohren wie ein Wirbelsturm von Lärm erscheinen. Selbst Meisterwerke wie „Washing Machine“ und „A Thousand Leaves“ geben ihre Schönheit erst preis, wenn man sich durch rostigen Metallschrott gekämpft und das Gehör geschult hat; die Myriaden von Aufnahmen und Spielereien außerhalb der Band dürfen als kaum kartographierte Wüste gelten.
Aber Thurston Moore ist eben auch ein Mensch, ein Mann zudem, für die „gewöhnlichen“ Kleinigkeiten und Mechanismen des Lebens ebenso anfällig wie jeder von uns: Vor einigen Jahren überfiel ihn die als „Midlife Crisis“ bekannte Mischinfektion aus Manie, Sehnsucht, explosiver Restjugend und Endzeitverzweiflung; ihre Verkörperung war (und ist) wie meist weiblich und ein Vierteljahrhundert jünger. Er beendete seine fast dreißig Jahre währende Indie-Traumehe mit SY-Bassistin Kim Gordon, räumte die Band in den Keller und gründete eine neue, die der alten nicht zufällig ähnelt: Baß spielt Debbie Googe von My Bloody Valentine, der ziemlich kongeniale Gitarrist James Sedwards gibt den neuen Lee Ranaldo, und Schlagzeuger Steve Shelley blieb einfach sitzen, wie das Schlagzeuger gerne tun.
Eine solche „Wiedergeburt“ könnte, s. o., perfekt in die Hose gehen, aber das tut sie nicht. „The Best Day“ ist hinreißend nostalgisch (man betrachte das Cover und versuche sich zu wehren) und zugleich revolutionär jetztzeitig, ein Aufbruch zu einem unklaren, unwiderstehlichen Traum und ein akribischer Kampf um den Weg dorthin – primitiv und raffiniert, laut und feinsinnig, zärtlich und brutal, monoton und überströmend von glitzernden Details. Stünde da „Sonic Youth“ drauf, wäre es eine Art Erfüllung, so ist es ein einsamer Diamant, ein pumpendes, verletzliches Herz im scheintoten Körper einer Musikwelt, mit der Thurston Moore nie etwas zu tun hatte und die er mit einer Geste heroischer Demut und nachdenklicher Raserei rettet. Auch wenn sie das möglicherweise nicht bemerken wird.
Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.