Belästigungen 02/2015: Ein paar ironiefreie Bemerkungen zu Charlie Hebdo, „Pegida“, „Bagida“, „Mügida“ und einigem anderen

Am 22. Juli 2011 erschoß ein Mann in Norwegen 77 Menschen. Am 7. Januar 2015 erschossen drei Männer in Paris 17 Menschen.

Der norwegische Mörder gab an, er habe sein Land gegen den Islam und einen sogenannten „Kulturmarxismus“ verteidigen wollen. Im Urteil spielte diese idiotische Begründung keine Rolle, auch in der Berichterstattung behauptete meines Wissens niemand, es habe sich um „christlichen“, „antiislamischen“ oder „antimarxistischen“ Terrorismus gehandelt. Die Pariser Mörder sollen vor ihrer Tat „Allahu akbar!“ gerufen haben. So gut wie keine Meldung zu dem Anschlag kommt ohne den Begriff „islamistischer Terror“ aus.

Es ist viel davon die Rede, es sei dabei um Karikaturen gegangen. Es müsse, so heißt es, auch weiterhin möglich sein, Witze zu machen, ohne erschossen zu werden. Dies ist zweifellos richtig. Es ging bzw. geht aber in beiden Fällen weder um Karikaturen noch um Witze noch um Meinungsfreiheit, und es geht auch nicht um den Islam.

Beide Attentate waren extreme Provokationen mit dem Ziel, Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufzuhetzen, Ressentiment, Haß und Gewalt zu fördern. Im ersten Fall war diese Provokation wenig erfolgreich: Der beabsichtigte Kreuzzug blieb ebenso aus wie ein Aufruf zum Dschihad gegen den Täter und sein Umfeld. Im zweiten Fall trifft die Provokation hingegen offenbar auf gut gedüngten Boden. Jeder, dessen Geschäft es ist, sich öffentlich zu äußern, glaubt nun, öffentlich äußern zu müssen, man dürfe sich nicht den Mund verbieten lassen. Gemeint ist: von Muslimen, die der „westlichen Welt“ ihre angebliche Witzfeindlichkeit mit der Kalaschnikow aufzwingen wollen.

Ich halte nicht sonderlich viel von Religionen. Ich denke aber nicht, daß es Inhalt und Zweck einer der großen Religionsgemeinschaften der Welt ist, Andersgläubige und Glaubensbrüder zu töten. Vielmehr denke ich, daß die Trauer um Tote ein wesentliches Motiv jeglichen religiösen Glaubens ist. Deshalb vermute ich, daß der überwiegende Teil der 1,6 Milliarden Muslime ebenso um die Toten von Norwegen getrauert hat und um die Toten von Paris trauert wie die meisten anderen religiösen und nichtreligiösen Menschen. Wir trauern also gemeinsam, und „wir“ trauern gemeinsam mit denen, gegen die „wir“ uns nun reflexartig wehren zu müssen glauben, die aber ebenso ein Teil des großen Wir sind wie „wir“.

Ich habe keine Lust, mich wehren zu müssen, nicht gegen eine Gefahr, die unberechenbar ist, weil sie ganz offensichtlich einem plötzlich hervorbrechenden Wahnsinn entspringt (bei dem es völlig irrelevant ist, ob er sich auf irgendwelche „religiösen Motive“ beruft). Ich will nicht durch eine diffuse öffentliche Meinung gezwungen werden, Millionen mir vollkommen unbekannte Menschen in ein Boot mit wahnsinnigen Massenmördern zu werfen, nur weil sie derselben (oder einer ähnlichen) Religion anhängen. Ich möchte mich weder von diesen Mördern noch von vermeintlich „betroffenen“ anderen zu Ressentiment, Haß und Gewalt provozieren lassen.

Ich mache gerne Witze. Menschen neigen dazu, lächerliche Dinge zu tun, über die man sich lustig macht. Es kann passieren, daß davon Religionen betroffen sind, weil (auch) Religionen nun mal menschlicher Natur sind und daher einen gewissen Hang zur Lächerlichkeit haben.

Ich will aber ebenfalls nicht mit Karikaturen von schmutzigen, warzigen, bewaffneten „Islamisten“ überschwemmt werden, mit Zeichnungen von hakennasigen, geldraffenden Juden und – ja, wie sehen eigentlich rassistische Darstellungen von Christen, Buddhisten, Hindus etc. aus? Es ist mir egal, ich möchte sie nicht sehen.

Vielleicht ist es möglich, uns gegenseitig als Menschen zu respektieren, ohne daß dafür erst wieder der Schock eines großen Krieges nötig ist. Vielleicht können wir unsere uns allen eigene Lächerlichkeit als eine Eigenschaft akzeptieren, die uns nicht trennt, sondern verbindet. Wahnsinnige Mörder und brüllende Provokateure werden wir damit weder aufhalten noch zur Vernunft „bekehren“ können. Es könnte aber dazu beitragen, abseits solch schrecklicher Verbrechen ein schöneres Leben zu führen und in dem wahrscheinlichen Fall, daß sich wieder etwas ähnliches ereignet, andere Schlüsse daraus zu ziehen, den Provokateuren nicht auf den Leim zu gehen und dafür zu sorgen, daß ihre Taten andere Folgen haben als die, auf die sie spekulieren.

Ich bin mal bei der Einreise in die USA gefragt worden, welcher Rasse ich angehöre. Die Frage ist leicht zu beantworten. Ich kenne Leute unterschiedlichster Herkunft, Sprache, Statur, Religion, Intelligenz, Hautfarbe, Schuhgröße, Klassenzugehörigkeit, sexueller, beruflicher und politischer Orientierung. Es läßt sich aber genetisch nachweisen, daß sie alle einer einzigen Rasse angehören. Diese Rasse heißt Mensch, eine zweite gibt es nicht. Ich hoffe, daß niemand jemals wieder in einem Land, in einer Welt leben möchte, wo Religion zur Rasse umdefiniert wird.

In manchen Situationen ist es verständlich, angemessen, manchmal sogar hilfreich, wenn sich Trauer in Wut verwandelt. Wut braucht aber einen legitimen Gegner. Im Falle des Massakers in Norwegen sitzt der legitime Gegner im Gefängnis, wahrscheinlich bis zum Ende seines Lebens. Die Mörder von Paris sind von der Polizei getötet worden. Wut ohne legitimen Gegner führt zu Hysterie und Raserei, zu Pogromen und Schlimmerem. Und zu dem, was sich Patriotismus schimpft. Wut ohne legitimen Gegner trifft immer die Falschen.

Da es keinen legitimen Gegner gibt, sollten wir unsere Wut hier und jetzt wieder in Trauer verwandeln. Und die Trauer, sobald das möglich ist, in Vernunft. In Besonnenheit, Respekt und Demut.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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