Belästigungen 01/2015: Aufbruch 2015 – Mit dem „sexiest man alive“ in den deutschen Wald

Neulich brachte ich auf dem Berliner Hauptbahnhof die achtundfünfzig Minuten Zeit des Wartens auf meinen Zug nach Augsburg damit zu, mich verdächtig zu machen, indem ich im ungefähren Kreis durch die Hallenetagen flanierte, ohne die vollkommen uninteressanten Schaufenster und Fettbapp-Ausgabestellen eines Blickes zu würdigen. Da teilte mir ungefragt und unvermittelt ein Spalier von Leuchttafeln im Vierminutentakt mit, ein Chris Hemsworth sei zum „sexiest man alive 2014“ gewählt (!) worden.

Ich habe noch nie etwas von einem Chris Hemsworth gehört, der laut ergänzender Information „Dreifach-Papa und Ehemann“ ist, was ihn aber sicherlich noch nicht zum „sexiest man alive“ qualifiziert. Dreifachpapas und Ehemänner gibt es schließlich mehrere, möchte man meinen, und besonders sexy (also als Partner zur Durchführung eines Geschlechtsverkehrs wünschenswert) sind die wenigsten davon. Es muß, denke ich, wohl eher was Berufliches sein, aber was hat Chris Hemsworth wohl für einen Beruf? Und wieso habe ich übrigens keine Wahlbenachrichtigung erhalten?

Das sind wahrscheinlich so Gedanken, die einen am Leben erhalten, zumindest geistig, so ähnlich wie die von diesbezüglichen Fachleuten gerne verschriebenen Kreuzworträtsel. Und damit wäre wieder einmal bewiesen, daß die vielgeschmähten Medien einen unverzichtbaren Bildungsauftrag erfüllen: Ohne ihr unermüdliches Mühen wäre mir womöglich irgendwo auf einem Bahngleis zwischen Preußen und Schwaben das Hirn zur Dattel geschrumpft. So indes erfuhr ich nicht nur, wer Chris Hemsworth ist (ein Darsteller, der in ein paar Seifenopern sowie „durchschnittlichen“ bis fürchterlich schlechten Filmen herumgelaufen ist und aussieht wie ein Schuhschrank mit Unterkiefer), sondern auch daß „sexiest man alive“ der bislang einzige „Preis“ ist, den er in seinem Pokalschrank stehen hat. Immerhin! kann ich da nur sagen.

Dies ist der Weg der individuellen Evolution: Man erhält eine unverhoffte Mitteilung, fragt sich unwillkürlich, sammelt Informationen und ist kurze Zeit später ein klügerer Mensch. Aber nicht nur das: Man ist Teil einer ganzen Spezies, die soeben einen möglicherweise entscheidenden Schritt in ihrer Entwicklungsgeschichte getan hat. Denn ich bin ja keineswegs der einzige Homo sapiens, in dessen Synapsen sich an diesem Tag der Begriff „Chris Hemsworth“ hineinevolutioniert hat: Am selben Tag, zur selben Stunde vagabundierten abertausende Artgenossen im Berliner Hauptbahnhof herum und erfuhren von Chris Hemsworths strahlendem Wahlsieg.

Berücksichtigen wir, daß das Reklamegebimse auf den bahnhöflichen Leuchttafelspalieren höchstwahrscheinlich von einer Agentur zentral gesteuert und auf sämtlichen deutschsprachigen Zughaltestellen gleichzeitig ausgestrahlt wird, könnte uns regelrecht bang werden. Es müssen Millionen sein, für die etwas namens „Chris Hemsworth“ bis dahin gar nicht existierte und die nun für den Rest ihres Lebens die ins Hirn tätowierte Information „sexiest man alive 2014!“ mit sich herumtragen.

Am Neujahrstag dieses knusprig frischen Jahres fragte mich ein lieber Mensch, ob ich nicht Lust hätte, meinen seit zwei Jahren stillgelegten Fernseher mal wieder anzuwerfen und mit ihr den „Tatort“ anzuschauen. Es gehört zu meinen immerwährenden guten Vorsätzen (nicht nur an Neujahr), alles, was ich eigentlich nicht tue oder aus guten Gründen ablehne, aus guten Gründen (oder einfach so) doch zu tun. Gut so, es war ein erfreulicher und vergnüglicher Abend: Im Ofen knackten die Scheite, die Handlung dümpelte vor sich hin, die Darsteller nuschelten um die Wette, und wir ließen uns von unseren anderweitigen Gesprächen bald nur noch dann ablenken, wenn wieder mal eine besonders unwahrscheinliche Wendung alle vorigen unwahrscheinlichen Wendungen in den Schatten stellte.

Am Ende war jemand der Täter, allerdings weiß ich nicht mehr, wer, weil sich wieder mal eine unverhoffte Information wie ein Spreißel in meine unbewußte Aufmerksamkeit gebohrt hat: eine Erwähnung des „keltischen Horoskops“, von dessen Existenz ich bis dahin noch nie gehört hatte. Ein paar Stunden später wußte ich zwar immer noch nicht wieder, wer der Mörder war, dafür war mir nun aber unter anderem bekannt, daß es ein keltisches Horoskop gar nicht gibt, weil es ein Fake aus dem 20. Jahrhundert ist, und daß es trotzdem mindestens ebenso zutrifft wie jedes andere Horoskop, von dem ich noch nie gehört habe. Eigentlich sogar noch mehr: Es könnte das „sexiest horoscope 2015“ sein, schon weil ich nun auch weiß, welch hübscher Mischforst aus Tanne und Ahorn da auf meinem Sofa vor dem „Tatort“ herumwaldete.

Vor allem aber werde ich die Vorstellung nicht los, wie am Neujahrsabend ungefähr 60 Millionen Deutsche, die noch keine Ahnung haben, daß sie Bäume sind, vor dem Fernseher gammeln, Kalauer über tiefgekühlte Leichen in sich hineintröpfeln lassen – und unmittelbar danach mit einem ameisenartigen Großangriff das gesamte Internet lahmlegen, indem sie fieberhaft ergoogeln, aus welchem Holz sie geschnitzt sind und ob dieses Vorzeichen mit ihrem bisherigen Lebensweg und -wandel überhaupt in Einklang zu bringen ist. In ferner Zukunft werden wir dann in den Geschichtsbüchern nachlesen können, zu Beginn des Jahres 2015 n. Chr. sei ein gewaltiger Ruck durch Deutschland gegangen und habe das alte Klischeewort vom „deutschen Wald“ mit völlig neuem Sinn erfüllt.

Es könnte allerdings auch sein, daß sich niemand mehr daran erinnert, wie dazumal ein vergessener Kolumnist nach einer mal wieder intensiven Silvesternacht einen ganzen Nachmittag und Abend lang versuchte, einen klaren und der Verbreitung würdigen Gedanken zu fassen. Und daß ihm dies möglicherweise mißlang. Weshalb er es bei einem Wunsch bewenden ließ: „Sexiest year alive“, ihr Lieben mit und ohne Laub!

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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