Belästigungen 24/2014: Rettet die Fettmutanten (und Kolumnisten) vor der frischen Luft!

Ich werde ab und zu gefragt, was ich eigentlich esse. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, daß es heutzutage als olympische Leistung gilt, sich nicht als menschliches Äquivalent eines modernen, im Vergleich zu seinen Vorfahren auf titanische Ausmaße angeschwollenen Automobils durch die Welt zu schleppen. Denke niemand, ich wollte fettleibige Menschen diskriminieren, wie das unter amerikanisierten Fitneßgerippen seit einiger Zeit in Mode ist (wie der heutige Bewohner der kapitalisierten Welt ja überhaupt immer irgendwen oder -was diskriminieren muß, weil ihm sonst seine Identität in den unteren Bereich der Hose rutscht, aber das gehört jetzt nicht hierher).

Nein, das möchte ich ganz und gar nicht; einige meiner besten Freunde sind fettleibig und haben davon wenig Gewinn. Suchen wir uns lieber einen wohlfeilen Schuldigen, schließlich sind wir hier bei den Medien! Das Problem ist, daß weder Vladimir Putin noch die Linkspartei als Sündenbock dafür herhalten können, daß deutsche Kinder – wie eine (vermutlich „großangelegte“) Studie unlängst herausfand – sich schlecht ernähren und daher zu einem großen Teil schon bei Erreichen der Gymnasialunreife als gefälschte Elefanten durchs Bildungssystem stapfen. Sondern, so hört man: die Schulspeisung.

Etwas unter diesem Namen gab es damals bei uns auch: Da erhielt man täglich zur großen Pause eine Semmel und eine Pyramidentüte Milch oder Kakao in die Hand gedrückt. Gesund war das sicher nicht, aber wahrscheinlich auch nicht sooo ungesund wie die verkochte Fleisch-Salz-Sahne-Pampe, mit der sich heutige Schüler die Wampe mästen – schon weil man damals mittags zu Hause war und was Gescheites vorgesetzt bekam, ehe man hinaus stürmte und bis Sonnenuntergang Fangermandl, Räuber und Schandi, Fußball, Verstecksterl spielte, Bäume und Garagendächer erkletterte, Radlrennen fuhr und anderen Blödsinn betrieb, mit dem man sich den Weizen-Zucker-Bapp wieder von den Rippen trainierte.

Damals kostete es (äußerst grob geschätzt) zwei durchschnittliche Stundenlöhne, ein anständiges Essen für eine Familie auf den Tisch zu stellen. Heute dürften wir uns da im Minutenbereich bewegen, und da sollte es eigentlich niemanden mehr wundern, daß man vom Essen krank wird, zumal eine weltmächtige Industrie Billionen damit scheffelt, Abfall in Pommes, Schoki, Pizza, Baguette, Wrap, Chips etc. zu verwandeln und ganzen Bevölkerungen einzuhämmern, dabei handle es sich um Nahrung. Während andererseits eine nicht weniger milliardenfette Immobilienwirtschaft das Geld, das die Menschen „einsparen“, indem sie sich mit Müll vollstopfen, in Form von astronomischen Mietpreisen einsammelt.

Also ist die Lösung eigentlich denkbar einfach: Man braucht bloß vom Dreck auf echte Lebensmittel umzusteigen und eine knappe Generation abzuwarten, schon ist alles wieder gut. Leider können sich solch simple Weisheiten gegen die Reklamesturmgeschütze der erwähnten Industrie kaum durchsetzen, und wenn die Gefahr besteht, daß sie’s doch tun, kommt eben ein „Wird man wohl noch sagen dürfen“-Propagandist von der Abteilung „Politisch unkorrekt ist das neue Cool“ daher und „setzt“ einen „Akzent“ (wie man so sagt).

Einer dieser Lautsprecher ist der Kolumnist Harald Martenstein, der seine ressentimentgefettete Ahnungslosigkeit zu so ziemlich allem in dem transatlantisch-neoliberalen Oberschichtblatt „Die Zeit“ verbreitet und neulich feststellte: „Wenn es nach der Natur ginge, dann würden wir alle mit vierzig Jahren sterben.“ Nämlich sei das bei „unseren Vorfahren“ so gewesen, „die dieses total natürliche Leben geführt haben, mit Biofood, reichlich Rohkost, ohne Zigaretten, klimaverträglich und mit viel Bewegung in (sic!) der frischen Luft“.

Ein derartiger Bullshit wird heute gerne als „Humor“ verstanden, vor allem wenn sein Verzapfer vergnüglich mit dem Auge zwinkert, hi hi. Daß die durchschnittliche Lebenserwartung „unserer Vorfahren“ durch zwei Welt- und tausende andere Kriege, eine industrielle Revolution, diverse Pest- und andere Epidemien, von gewissen Schichten eingeleitete bzw. begünstigte Wellen von Ausbeutung, Sklaverei und Hunger sowie eine all dem und anderen Gründen geschuldete Kindersterblichkeit stärker gedrückt wurde als heute der billigste Billiglohn, daß große Teile der Welt von Bangla Desh über Sierra Leone bis in die Slums der toten Städte der USA nach wie vor oder erst recht so leben (und dort im Durchschnitt kaum ein Mensch vierzig wird), während der „Westen“ den überwiegenden Teil seines Bruttosozialprodukts dafür ausgibt, seine Fettmutanten mit Pharmazie und Gerätemedizin so lange am Leben zu erhalten, bis wirklich gar nichts mehr geht und es lohnender erscheint, ihre Organe zu verscherbeln – all das ist dann nicht mehr so wichtig. Hauptsache, wir können weiterhin Fastfood mampfen.

Übrigens hielten sich Menschen, die sich der Mühle von Unterdrückung, Ausbeutung, Kriegsvernichtung, Konsum und fremdbestimmter Arbeit entziehen konnten, schon immer relativ lange. Am schlimmsten waren wohl die Philosophen der Kyniker- und Stoikerschulen (nicht nur) im alten Griechenland, weil sie auch noch genau die Lebensweise pflegten, die Herr Martenstein so „humorvoll“ „auf die Schippe nimmt“: Zenon fiel mit 72 eine Treppe hinab, Chrysippos lachte sich mit 73 tot, Antisthenes erlag mit 80 einer Krankheit, Diogenes von Sinope hielt mit 90 die Luft an, und Kleanthes war fast hundert, als er nach einer Zahnfleischbehandlung beschloß, es gehe ihm ohne Essen besser.

Hingegen ist es ein gemeinsames Merkmal der Kolumnisten, deren Berufsstand erst im 20. Jahrhundert seine Blüte erlebte, daß sie sich gerne in relativ jungen Jahren zu Tode soffen. Wahrscheinlich weil sie den erbärmlichen Zustand der Welt, die sie beschreibend und kommentierend ertragen mußten, irgendwann nicht mehr ertrugen. Dazu indes braucht es einen Verstand, weshalb Herrn Martenstein dieses Schicksal wohl erspart bleiben wird. Und ich? Ich gehe jetzt ein Bier trinken.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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