Frisch gepreßt #322: Bear Hands „Distraction“

Am ersten Ferientag nach der dritten Grundschulklasse lagen wir im Schyrenbad und kannten weder Zeit noch Raum; es duftete nach warmen Chlorwasser, das am Beckenrand in Pfützen verdampfte, in die man sich manchmal legte, wenn man zu lange im Wasser gewesen war und nun mit himmelhellblauen Lippen sofortige Erwärmung suchte; es duftete nach feuchtem Gras, nach Schaumwaffeln, Pommes frites, Waldmeistereis und Americana-Comic-Kaugummi. Alles war himmelhellblau und waldmeistergrün, und neben meinem waldmeistergrünen Handtuch lag ein Buch, das ich mir aus der Stadtbücherei in der Deisenhofener Straße ausgeliehen hatte: „Gepäckschein 666“; ich war aber zu faul zum Lesen, schaute lieber in den himmelhellblauen Himmel und dachte an: nichts.

Seltsam, daß es damals im normalen Leben keine Musik gab. Um die zu hören, mußte man sich zu Hause vor den Plattenspieler setzen, und wer setzte sich schon im Sommer zu Hause irgendwo hin? Also gab es keine Musik, oder doch: im Kopf. Leider weiß ich nicht mehr, was für Musik das war und ob es sie im wirklichen Leben auch gab. Später habe ich oft an „Gepäckschein 666“ gedacht und mich gefragt, ob es das Buch wirklich gab und ob ich es je gelesen habe.

Heute morgen, am 1. August, bin ich unter dem himmelhellblauen Himmel die Leopoldstraße entlanggeradelt und sah auf einer Bank ein paar Bücher liegen, die jemand da hingelegt hatte, damit sie jemand anderer mitnimmt. Es waren lauter Bücher mit kyrillischen Schriftzeichen und blassen Schwarzweißbildern, gedruckt irgendwann in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in der Sowjetunion. Nur eines war deutsch: „Gepäckschein 666“. Da dachte ich, das ist vielleicht ein Zeichen. Aber wofür?

Zu Hause spielte mein Computer zufällige Musik, wie er das manchmal tut, um mich vielleicht neugierig zu machen. Einige Zeit plätscherte das so vor sich hin, aber plötzlich wurde ich hellwach: Da lief „Party Hats“ von Bear Hands, und das ging mir nach vier Sekunden schon so sehr nicht mehr aus dem Kopf, als bestünde mein ganzes Gehirn, mein ganzer Körper daraus. Erstaunt stellte ich fest, daß ich das Lied und das ganze Album im Februar schon mal gehört hatte, ohne es zu bemerken. Wie geht das? Noch erstaunter stellte ich fest, daß die Platte nächste Woche noch mal erscheint, wie das Platten früher manchmal taten, wenn sie für die deutsche Plattenindustrie erst einmal zu neu, zu fremdartig, zu gut waren. In diesem anachronistischen Fall: ein Glück, weil der August die ideale Zeit ist für diese Mischung aus himmelhellblauem Synthesizerpop, klirrenden Gitarren, kantigen New-Wave-Grooves, waldmeistergrünen Stimmen in windig-kühlen Hallräumen, wütendem Punk, nüchternem Achtziger-Tanz-Chrom/Plastik/Glas, Postpunk-Indietronik, hochsommerlich schwebender Glücksmelancholie, mediterranem Shabby-Chic-Glanz und Melodien, die im Gedächtnis kleben wie Americana-Comic-Kaugummi. Und weil „Thought Wrong“ die seltsamste, traurigste, schwereloseste Ballade ist, die ich seit langem gehört habe, und mich durch mehr als einen einsamen Herbst begleiten wird wie ein tröstender Geist.

Es interessiert mich nicht, was Kritiker daran beanstanden („zu repetitiv“, „zu radiofreundlich“), was für Referenzen sie bemühen: The Police, MGMT (mit denen Sänger Dillon Rau zur Schule gegangen ist), The Clash, Hall & Oates, Foster The People, Vampire Weekend, INXS, The Dismemberment Plan, The Fixx, Mansions, Phoenix … das ist alles Quatsch und stimmt wahrscheinlich trotzdem, aber es hilft gegen die Magie glücklicherweise so gut wie Aspirin gegen eingewachsene Zehennägel.

Drum ist’s egal. Ich fahre jetzt zum Baden, wickle „Gepäckschein 666“ in mein waldmeistergrünes Handtuch, und diesmal habe ich Musik dabei – vielleicht ist es sogar diese Musik, die damals in meinem Kopf lief. Schöne Ferien.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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