Frisch gepreßt #321: Neil Diamond „All-Time Greatest Hits“

Für die Generationen, denen ich angehöre, war Neil Diamond schon ein Witz, als wir noch gar nicht richtig wußten, wie man lacht. Ich meine: Wer irgendwann mal, warum auch immer, versehentlich „Song Sung Blue“ hört, dem haut es automatisch den Vögel aus dem Häuschen (insbesondere in der unfaßbar anti-selbstironischen und dabei vollkommen souveränen Version auf dem Livealbum „Hot August Night“). „Everybody knows one / Every garden grows one“ – ho! ho!

Neil Diamond war die perfekte Musik für Pseudoerwachsene, die nicht viel mehr vorweisen konnten, um diesen Zustand zu rechtfertigen, als Auto- und Hausschlüssel (für eine Bude, die samt Garage identisch aussah wie 35.000 andere Buden in den umliegenden Suburbs), einer treu grinsende Frau (die fünf Jahre später, ab etwa 1977, ihrem Psychiater vorjammern würde, sie sei in das alles hineingeschlittert), einem Job (Auto oder Atom) und der rechtlichen Verfügungsgewalt über die Kinder (die ab sechs bei ihrem eigenen Psychiater saßen, wegen aller möglichen „Entwicklungsstörungen“, und mit sechzehn Dad den Finger zeigten und zu Hippiefestivals trampten, wo sie drei Tage lang im Schlamm ertranken und hinter irgendeinem Caravan selber Kinder zeugten, die sich fünfzehn Jahre später mittels Fastfood und Vitamintabletten in ungeschickt nachgebildete Kopien ihrer Autos verwandelten).

Neil Diamond ist der dritterfolgreichste Erwachsenenpopmusiker aller Zeiten, und das liegt an der Perfektion, mit der er stets das (etwas) Falsche machte. Daß die Monkees mit seinem „I’m A Believer“ ihren und einen der größten Hits überhaupt landeten, lag wiederum an dem haarsträubenden Kontrast zwischen der naiv-irren Versponnenheit und witzsprühenden Renitenz der Darsteller und der gipsernen Hartfressigkeit des Liedes, das sich nur in ihrer Version selbst entlarven und ernstnehmen zugleich konnte.

Neil Diamond war immer, immer einer, der darzustellen versuchte, was er nicht war: Everly Brother (ganz zu Beginn seiner Karriere), Countrysänger, Zweitliga-Billy-Joel, Rocker, Jazzer, Jugendidol, Popstar, Crooner, reifer Liedermacher, nachdenklicher „Great Old Man“. Bezeichnend, daß er wirklich Neil Diamond heißt, sich aber anläßlich seines zweiten Plattenvertrags einen Künstlernamen zulegen wollte: Noah Kaminsky oder Elce Charry. Vielleicht typisch für ihn insgesamt ist das Album „Brother Love’s Traveling Salvation Show“ von 1969, auf dem er sogar so etwas wie einen Hippie zu verkörpern versuchte, sämtliche gängigen Popgenres der Zeit unfreiwillig parodierte und zugleich Botschaften von einer derartig reaktionär-selbstzufriedenen, höchstens mal weinerlichen Biederkeit verbreitete, daß sich sein Publikum (s. o.) nach dem Ausschlußverfahren von selbst bildete. Die Erzähler dieser Songs hegen vieles, aber nie und nimmer Selbstzweifel, und daher ist die „Liebe“, von der sie oft schwärmen, nichts anderes als Erdnußbutter und der Gott, den sie noch häufiger loben, eine Art Ronald McDonald mit Donnerkeil.

Es mag einen zum Haareraufen bringen, daß der Sohn einer jüdischen Familie mit polnischen und russischen Vorfahren aus den vielen krassen Dingen, die ihm in 73 Jahren Leben widerfahren sind, nie mehr gemacht hat als höchstens einmal pseudonachdenkliche Couplets – unbestreitbar ist abseits der Textfrage sein Spürsinn für uramerikanisches Liedgut, für Zewa-wisch-und-weg-Lieder und Hot-Dog-Songs, die man beim Einkaufen hört und nie wieder vergißt, obwohl man sie gar nicht bemerkt. „Girl, You’ll Be A Woman Soon“, „A Little Bit Me, A Little Bit You“, „Red Red Wine“, „Kentucky Woman“, „You Don’t Bring Me Flowers“, „Solitary Man“ … Man könnte eine Riesenliste zusammenstellen, von der mindestens die Hälfte selbst bei Semifachleuten zu dem Ausruf „Was, das ist auch von dem?!“ führte.

Und dann kommt irgendwann die Nostalgie, die die schlimmsten Schlimmheiten zu pflegenswertem Kulturgut macht (vgl. z. B. Elton John). Daß Rick Rubin mit seinem Versuch, den späten Neil Diamond zu einer Johnny-Cash-ähnlichen (oder -antipodischen) „Lonesomer“-Gestalt auszubauen, scheitern mußte, versteht sich von selbst; überraschend hingegen ist die Wohligkeit des Fracksausens, das Angehörige meiner Generationen überkommt, wenn sie all diese (insgesamt 23) Sachen (wieder-)hören: Doch, das hat was, sogar eine Art klassischer Schönheit, und selbst wenn’s nur die Bilder einer versunkenen Welt sind, die diese Songs heraufbeschwören.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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