(Aus dem tiefen Archiv:) Wie wieder einmal ein Radkurier nicht kuriert worden ist

(Anmerkung: Der folgende Text entstand mutmaßlich im Herbst 2001 im Auftrag von Michael Rudolf für die Anthologie „Das Fahrradbuch“. Er hat keine aktuelle oder sonstige Bedeutung, sondern war lediglich eine müßige Schnurre, wie man sie damals gelegentlich schrieb. Möglicherweise mag er als nostalgische Erinnerung an Zeiten dienen, als es elektrische Fahrräder zwar der Idee nach gab, nicht jedoch im täglichen Verkehr.)

Sonntagnachmittagsteestunde. Thema des wie üblich durch das Vorhandensein von Sprech- und Hörorganen und Befürchtung emotionalen Unwohlseins („peinliches Kribbeln“) im Fall einer Unternutzung derselben herbeigeführten Austausches von phonetisch organisierten Äußerungen: Wie es denn nun im Grunde eigentlich und überhaupt möglich sei, das Phänomen „Fahrrad“ eindeutig zu beschreiben. Beitrag Onkel Arthur: Ein Fahrrad sei etwas, das fährt, also mit Rad, zwei solchen meistens, oder drei oder manchmal nur einem (kipplige Demonstriererei fehlgeleiteter Versuche einer „Selbstfindung“ mittels circusclownähnlichen Auftretens in der Öffentlichkeit, von Tante Adele unter besorgtem Hinweis auf Onkel Arthurs fahrraddurchausähnlichen, aber nach außen hin gänzlich radlosen „Hometrainer“ und dessen weitende Wirkung auf des Onkels Herzbeutel abgebrochen), ohne Motor, so nicht menschlich, aber, dies als Konzession an nicht ungenüßlich vorgebrachte Einwände: irgendwie auch insgesamt mit zwei Rädern oder dreien doch „ein Rad“, also dann ein Fall von Homonym (Tante Adele schreckt kurz auf, als die ersten beiden Silben ihr Trommelfell durchschritten haben, und fragt gütig zurechtweisend, ob man schon wieder auf dem Gauweiler herumhacke), hierauf kollektives Kanon-Gähnen, dann vorübergehendes Schweigen und Herandämmern des erwähnten emotionalen Unwohlseins.

„Manchmal ganz schön gefährlich, so ein Ding“, murmelt Großonkel Theodor. Zum Beispiel sei ihm ein Fall zu Ohren gekommen von einem Radfahrer, der im Englischen Garten mit Tempo achtzig die Außenwand eines Busses durchschlagen, den auf deren anderer Seite sitzenden Fahrgast mittels Einbringung der Lenkstange in dessen organischen Bereich zum Mitkommen gezwungen und die Fahrt schließlich an einem Baum beendet habe, wobei wachstumsgefährdende Beschädigungen der Substanz des Gewächses sowie zwei Todesfälle (der Zwangsfahrgast und eine ursprünglich unbeteiligte, zum Entweichen jedoch aufgrund einer Schocklähmung nicht fähig gewesene Spaziergängerin) unvermeidbar waren.

„Das war sicher ein Fahrradkurier!“ ruft Fritzi (Tante Adele schreckt erneut kurz auf, hat „Bayernkurier“ verstanden und fragt, ob man schon wieder auf dem Stoiber herumhacke). Was das denn nun wieder sei, verlangt Onkel Arthur zu erfahren, und Fritzi verliert sich in einer sprunghaften Annäherungsbeschreibung, die im wesentlichen darauf hinausläuft, ein Fahrradkurier sei im wesentlichen eine Art menschliche Rohrpost, die, einmal abgeschossen, von nichts und niemandem mehr gestoppt werden könne, höchstens eben von einer günstigen Kombination aus Bus, Baum und Passantin oder andererseits vom Erreichen des Zielorts, von wo er aber im Normalfall nach Übergabe der herbeikurierten Sache sofort wieder weitergeschossen werde. Ein moderner Dienstleistungsberuf mithin; „und außerdem kiffen die alle“, lautet das einen Provokationsvorsatz spürbar enthaltende Schlußwort (Tante Adele ist wachgeblieben, verlangt das Fremdwort „Diffendiale“ erläutert zu bekommen, erfährt, man hacke bloß wieder einmal auf den nordrheinwestfälischen Gesamtschulen herum, und schläft, vorläufig entsorgt, ein).

Zur Herkunft des Phänomens wird von anderer Seite ausgeführt, es sei zur Sicherung des Ablaufs gewisser Geschäftsvorgänge schon immer nötig gewesen, Dokumente, Kleinzeug und dies und das schnell von „A“, nach „B“ zu bekommen, bekanntermaßen jedoch seit Jahren nicht mehr möglich, im städtischen Verkehr ein Automobil zu anderen Zwecken als denen einer privaten Wärmestube einzusetzen. Die Stadt München zum Beispiel bestehe neben den zur Unterbringung des Wirtschaftswachstums zwecks Anstrebung eines Zustands der Wettbewerbsfähigkeit nun einmal nötigen Gebäudekomplexen und einigen unwesentlichen Wohncontainern in Stadtrandnähe vor allem aus Straßen, deren Gesamtlänge von soundsoviel Kilometern weitläufig kongruent sei mit der Gesamtlänge der im Regierungsbezirk Oberbayern zugelassenen Automobile, die zwecks streckendeckender Füllung derselben von den Fließbändern Bayerischer und anderer Motorenwerke auch weiterhin millionmäßig ausgespuckt werden. Wo sich doch einmal ein paar Meter zum Rollen fänden, werde dieses unmittelbar unterbunden durch die versehentliche Totfahrung sog. „Radl-Rowdies“ und die folgende Sperrung des Verkehrsweges zwecks Fortschaffung des störenden Elements. Und da es eine „Post“ im üblichen Sinne nicht mehr gebe, diese vielmehr durch ein zur Beförderung gewöhnlicher Sendungen nicht geeignetes „Logistics“-Ding ersetzt worden sei, – daher also die Idee, aufgrund längerfristiger Sozialfälligkeit ohnehin zu allem bereite und dank jahrelangem Fitneßterror vor überschüssiger Bewegungsenergie nur so sprühende ehemalige oder Gar-nicht-Autobe- oder einsitzer in bunte Preßwürste umzugestalten, ihnen einen Sack anzuschnallen, sie mit praktisch gewichtslosen Science-fiction-Fahrrädern auszurüsten und mit der Zielvorgabe „Schneller als Fax!“ in die urbanen Stauadern einzubringen.

Die solcherart erfolgte teilweise Auslaugung des Themas führt nach einigen Minuten mehrstimmiger Verständnisanzeigen in Form von „Ach so“ und „Hm“ zu einer Vorform emotionalen Unwohlseins bei Tante Adele, die daraufhin selbsterstellten Kuchen (in beiläufiger Fahrradradform) serviert. Der Verzehr des selbigen wiederum bedingt einen Wechsel der Erzählformen hinein ins sozusagen Abbrevierte, da nun jeder lautlichen Äußerung eine materielle Verinnerlichung vorangeht und folgt, womit nicht jeder gleich gut zurechtkommt. Großonkel Theodor, begünstigt von der familienintern und naturbedingt längsten Erfahrung im Umgang mit Phrasen und Kuchen in jeder Form, äußert sich dahingehend, daß es doch genau betrachtet recht eigentlich gut sei, wenn die jungen Leute, die sowieso nichts zu tun hätten, durch die Bestallung zum Fahrradkurier immerhin etwas solches denn doch hätten und täten und damit gewissermaßen von der Straße seien, wo sie am Ende bloß Skinheads würden. Von der Straße seien sie ja eben nicht, wird eingewendet, und im übrigen meistens doch Skinheads, aus aerodynamischen Gründen. Jemand verschluckt sich am Tee, und das Argument versickert mangels Stichhaltigkeit in der Zuckerdose. Großtante Edeltraut, deren notorische, seit Jahrzehnten ihr baldiges Ableben angeblich befördernde, nie bisher aber ganz hinbekommende Zuckerkrankheit ihr die Aufnahme von Tante Adeles aus demselben Grund angeblich notorisch und seit Jahrzehnten überzuckertem Backwerk verwehrt, ergeht sich unter dem Feuerschutz allgemeinen Kauens und Dahernichtsprechenwollens in einer längeren Memorierung des weiland weltberühmten Kunstradfahrers Hempftnyuempftn, den sie am achten August 1918 im damaligen Münchner Annenhof erlebt habe, wie er auf dessen Bühne eine Kreisfahrt ohne Freilauf und Rücktrittbremse, aber mit verbundenen Augen hingelegt habe, die von großem Stolz und mitnichten als Dienstleistung zu erkennen gewesen sei. Das habe sie schon sehr beeindruckt, und der Einwand von seiten Großonkel Theodors, dies sei ein Schmarrn und habe nichts mit dem Thema zu tun, sei selbst ein Schmarrn, und eventuell habe sie mit besagtem Herrn Kunstradfahrer sogar ein kleines Affärchen gehabt, aber das wisse sie nun wirklich nicht mehr genau, weil sie ja schon so alt sei.

„Aha!“ brüllt Großonkel Theodor, der Folgetatsache nicht achtend, daß nun ein gewisser Teil des Familienporzellans nicht mehr nur unersetzlich, sondern auch nicht mehr zu ersetzen und für immer dahin ist. Ob sie denn nicht wisse, daß Radfahrer grundsätzlich Verbrecher seien, was sich heutigentags gerade an den Radkurieren erweise, deren erster und somit alles weitere begründender und auslösender kein anderer gewesen sei als der Teufel selbst, jener Berliner Kommunenkommunist, der auch das beste Beispiel dafür hergebe, daß, wer zu gar nichts fähig und überhaupt blöd, dazu aber auch noch frech sei, am liebsten Radkurier werde. Und im übrigen heiße jener Berufschaot ja mit Vornamen genauso wie der mißratene Neffe ihrer mißratenen Nichte, was die Vermutung nahelege, daß in diesem Hause nur deshalb so rücksichtsvoll und salbend über Radkuriere dahergeredet werde, weil dieser vielleicht heimlich selber einer sei. Fritzi errötet, doch wüßte man nicht, ob vor Zorn oder im Zustande der Ertapptheit, wenn es nun nicht aus ihm gleichfalls herausbräche, was sich der alte Depp überhaupt einbilde, und schließlich müsse man sich ja irgendwie in einer konsumorientierten Innovationsgesellschaft zu seinem lächerlichen Taschengeld was dazuverdienen, und da sei das Radkurieren eine treffliche Sache, weil er sowieso keine Lust habe, dereinst mangels sportlicher Betätigung als morsches Vogelscheuchenwrack zu enden wie der Großonkel, der ihm ansonsten generell den Buckel hinunterrutschen könne.

Nachdem Großonkel Theodor noch gebrüllt hat, der Bub sei eine absolut falsche Schlange und habe im übrigen durch seine vorherige Feststellung bezüglich des Rauschgiftkonsums jener gemeingefährlichen Berufsgruppe nun auch sich selbst entlarvt, herrscht für einen Moment Erschöpfung, die Onkel Arthur nützt, um nachdenklich einzuwenden, es handle sich bei dem rasenden Kuriertum doch im Grunde um eine Form moderner Sklaverei, das seien doch alles solche Scheinselbständigen.

„Und essen tun sie auch nichts Gescheites“, meint Tante Adele versöhnlich in Richtung ihres Neffen, der nach weitgehender Mißachtung des Kuchens inzwischen aus der Sacktasche seiner Nylon-Mehrzweckhose einen Gegenstand mit dem Aufdruck „Knoppers“ gezogen hat. „Ich mag es leicht, locker, knusprig, und ein Knoppers hat alles, was ich brauche“, schmollt der Bub. Das habe er schon gehört, daß dieses faule Rauschgiftpack sich mit riegelförmigen Süßigkeiten vollstopfe, schimpft Großonkel Theodor wieder los. Das sei in jedem Fall das letzte Mal gewesen, daß er sich mit einem Kunstradfahrer oder Kurier oder ähnlichem Larifari an einen gemeinsamen Tisch gesetzt habe. Ob der Bub jetzt ein Kunstradfahrer sei, will Großtante Edeltraut wissen, deren vorübergehende Ertaubung nach Großonkel Theodors Brüllanfällen für gewöhnlich etwas länger anhält. Ob sie dann einmal sein Rad sehen dürfe, sie habe ja schon so lange kein solches Rad mehr gesehen, eigentlich seit dem frühen Morgen des neunten August 1918, als …

Man beschließt, Großonkel Theodor Zeit für eine Zigarre zu lassen, ehe man ihn wieder aus dem Klo holt, wohin er sich seit vielen Jahren jeden Sonntag zum Schmollen zurückzieht, und inzwischen Fritzis vor dem Haus festgekettetes Arbeitsgerät einer Bestandsaufnahme zu unterziehen. Es handelt sich um ein äußerlich ziemlich mitgenommenes, im wesentlichen auf Stangen und Rohre reduziertes Modell, dem Onkel Arthur eine verschwindend geringe Ähnlichkeit mit einem Fahrrad attestiert, das aber laut seinem Inhaber selbst die „bärigste Steigung“ mitmache. Mit natürlich nicht jedem, aber er schütte sich ja zwecks Qualifizierung den ganzen Tag mit Elektrolyten voll, weil wenn man während des Strampelns sich erlaube, eine Anstrengung zu spüren, habe man ihn schon hinter sich, den „point of no return“. Dann könne man in seiner Rekreationszeit nach und vor der Arbeit outworken und trainieren, bis man umfalle – man falle trotzdem um. Und es gehe ja bei solcher Tätigkeit nun einmal ausschließlich darum, die Zeit zu besiegen, das sei ein Stahlbad, da müsse man hinein. Seit er gleich in seiner dritten Kurierwoche den ersten Herzinfarkt hingelegt habe, sei er vorsichtiger geworden und habe jede Form ruhebetonter Freizeitaktivität gänzlich eingestellt. Hip Hop könne man auch bei der Arbeit hören, und dieses Bücherlesen werde sowieso überschätzt. Was das Leben wirklich ist, habe er erst als Radkurier erkannt, das heiße: während der Einarbeitungszeit im Fitneßstudio, als es ihn das erste Mal vom Steptrainer gebröselt habe. Da sei er um seinen Job heilfroh gewesen, denn in einem Büro wäre wahrscheinlich erst nach zwei Wochen aufgefallen, daß er sich nicht mehr bewegt. Am Gigastep 2000 dauere das eine Sekunde, dann haue es einen runter. Sonst werde man ja reingezogen, in den Bandmechanismus, und dann sei es sowieso aus. Beim zweiten Mal (Onkel Arthur hebt die Augenbrauen: zwei bedeuten Gleichstand, und das in diesem Alter!) habe er geschäumt wie ein Milchkalb. Da habe ihn der Workout-Commander noch gelobt. Erst als er auf keinen Befehl mehr reagiert, vielmehr bloß noch geschäumt habe, sei dem klargeworden, daß es wieder ein Infarkt war. Inzwischen gebe es auch in der Fahrradkurier-Zentrale einen Defibrilator; die Kollegen seien ja meist um die vierzig, da haue es täglich einen um.

Im Grunde sei es schon unverantwortlich, daß er einen derart großen Sektor seines free-time-set-up für so unsinnige Dinge wie eine Samstagnachmittagteestunde opfere, denn nicht zuletzt sei auch sein Rad ein modernes Gerät, das bewegt werden müsse. Wobei überhaupt „Rad“ ein überkommener Begriff sei; Rennmaschine hätte man früher dazu gesagt, aber heute spiele das Tempo ja keine Rolle mehr, unter sechzig km/h brauche man gar nicht mehr auf den Berg hinauf, da sei man ja in zwei Stunden noch nicht wieder unten. Entscheidend sei daher ein ausreichendes Angebot an Bedienungskomfort: automatischer gear-change, Federrahmen, Blindsteuerung – weil man bei dem Tempo natürlich die Augen nicht mehr aufkriege.

Aber für was er denn dann überhaupt, wenn er schon den ganzen Tag radeln müsse, dann am Wochenende auch noch auf einen Berg fahre, wenn er davon gar nichts sehe, fragt Tante Adele besorgt; der Bub erklärt ihr fürsorglich, solche Einstellung sei ein Witz, denn diese ganze Natur, die lenke einen doch sowieso bloß ab. Konzentrieren müsse man sich in der Freizeit, und zwar auf den Körperfunktionsmesser; da spiele die Musik, denn einen Infarkt am Berg könne man sich selbst bei modernster Streckenerschließung höchstens zweimal erlauben. Was überhaupt das Theater mit der Natur solle! Wofür man denn in der ganzen Stadt Grünstreifen angelegt habe! Es gehe schließlich um die Freizeitbedürfnisse des einundzwanzigsten Jahrhunderts, da sei eine rekreative Betätigung nur möglich, wenn die surroundings hi-tech-mäßig auf den neuesten Stand gebracht würden. Und natürlich nicht nur diese, sondern auch die Teilnehmer am Verkehrswettbewerb, weswegen er seit langem dafür plädiere, daß Fußgänger, um die Berechtigung zur Teilnahme am Straßenverkehr zu erlangen, sich hinkünftig nicht nur mindestens mit einem Ganzkörper-Airbag auszurüsten hätten, sondern selbstverständlich auch ein Nummernschild tragen müßten, schließlich gehe es hier auch um Verantwortlichkeiten, und wenn er zum Beispiel einen Beförderungsauftrag sausen lassen müsse, weil er in eine rücksichtslos in der Verkehrsader herumlungernde Spaziergängerfamilie hineinstoße, dann gehe solches ja nicht an. Erst letztens sei ihm etwas dieser Art passiert, und bis er die Reste des Kinderwagens wieder aus seinen Speichen herausgepflückt habe, sei die Einkunftsmöglichkeit längst in die Hände der Konkurrenten gefallen gewesen. Ob für derartige Vorgänge nicht sein Arbeitgeber, jene erwähnte „Zentrale“ aufkomme, möchte Onkel Arthur mit gewerkschaftlich gefärbtem Unterton wissen und erfährt, daß es einen solchen selbstverständlich gar nicht gebe; lediglich ein Coordination Manager sei im dortigen Headquarter tätig, und der habe im Grunde auch bloß die Position eines Trainee inne, während die Managementebene gewissermaßen entzerrt und diversifiziert sei. Man lebe ja nicht in den Tagen der Frühestindustrialisierung mit ihren sozialen Vergnügungsparks, sondern im Dienstleistungszeitalter, und da habe jeder für sich selbst aufzukommen und zu sehen, wo er bleibt, und wem das nicht passe, der solle eben nach drüben gehen in die DDR, die es zwar verdientermaßen auch nicht mehr gebe, auf deren einstigem Territorium sich aber hartnäckig die weltfremde Einstellung halte, der Kapitalismus sei ein System und kein Prozeß, bei dem nur dem weiterkommt, der tritt, was er kann. Gerade der doch wohl hoffentlich auch von ihm geschätzte Ministerpräsident habe sich mehrfach offensiv zur Entwicklung bekannt und deshalb übrigens auch eine Offensive Zukunft Bayern ausgerufen, der sich nichts und niemand in den Weg stellen dürfe, schon gar nicht wirklichkeitsfremde Bedenkenträger mit humanistoiden Bremsklotzargumenten, die bloß davon ablenken sollen, daß man nicht fit for life, fit for future, wettbewerbswillig und –fähig sowie generell gestrig und verkrustetem Besitzstanddenken verhaftet sei. Der Fahrradkurier sei in dieser Hinsicht exakt genau dasselbe wie einst der Pony-Expreß, ohne den der Wilde Westen ja auch nie zivilisiert und erschlossen worden und heute noch von pemmicanmampfendem Steinzeitgesocks bevölkert wäre. Man müsse hineinbrechen in die Innovationslücke! Hierbei gehe der Fahrradkurier einen wesentlichen Schritt weiter als der berittene Pionier jener Zeiten, da er auf Drittmittel nicht mehr angewiesen sei. Es unterscheide sich der Mensch nicht vom Getier durch den aufrechten Gang auf zwei Beinen, den ja auch ein Huhn hinbekomme, sondern durch den gezielten Einsatz seiner Fußsohlen mittels Verschränkung mit Pedalen. Und ein Haufen Fun sei das sowieso.

Großtante Edeltraut besteht nach einer Weile schwärenden Schweigens auf der These, es handle sich bei Fritzis Beruf im Grunde um einen ehrenwerten solchen mit gemeinsinnigem Bedeutungsanteil. Sie habe im übrigen auch schon von einem Pallottiner-Pater gehört, der sich auf dem Frankfurter Flughafen mit der Sorge um die Seelen der globalmobilen Menschen tätig tue, und der habe sogar schon einmal für ein Telephongespräch zwischen Mutter Theresa und Ronald Reagan gesorgt, in dessen Folge einige Care-Pakete über dem Sudan abgeworfen worden seien. Was das nun hier wieder solle, fährt der aufgrund heftiger Neugier soeben aus dem Kloexil herbeigekommene Großonkel Theodor breitreifig dazwischen, sie wolle ja wohl dem Buben keinen theologischen oder caritativen Hintergedanken unterstellen, dazu müßte er ja wohl erst einmal das Vaterunser hersagen könne, was heutzutage keiner von diesen Kerlen mehr könne, und Fliegen und Radeln seien ja ein bißchen nach wie vor unterschiedliche Dinge, sogar was den finalen Aufprall im Eventualfall angehe. Aber der Pater, wenn man sie ausnahmsweise ausreden hätte lassen, hätte sie das längst gesagt, brause eben auch mit einem Dienstfahrrad durch die Hallen, trumpft Großtante Edeltraut auf, er sei im Grunde eine Art Segensfahrradkurier, und das zeige doch, daß nicht alles schlecht sei, was radelt. Der imperiale Seufzer des Großonkels ertrinkt in den kakophonischen Äußerungen eines vorläufig unbekannt bleibenden Elektrogeräts, das mit metallischer Rasierklingenschärfe eine mehrstimmige Etüde in den Luftraum düdelt, was Tante Adele diesmal dermaßen schockiert zusammenfahren läßt, daß wechselseitig Befürchtungen laut werden, sie habe einerseits nun ebenfalls einen der familiärgenetisch vorprogrammierten Herzinfarkte erlitten, sei andererseits aber offenbar ein Hund, da sie bekanntermaßen praktisch nichts mehr höre, diese Ultraschallsirene aber eben doch. Urheber der Sache ist, wie sich herausstellt, eine Art Walkie-Talkie, das Fritzi aus einer Nebentasche seiner Mehrzweckbekleidung zieht und angestrengt hineinhorcht in das knatternde Rauschen, das dem Ding entströmt.

Es tue ihm leid, aber er müsse sofort los, weil ein wichtiges Dokument abzuholen sei, und wenn er da nicht der erste sei, dann habe er wieder die ganze Fahrt umsonst gemacht und müsse sich den morgigen Keksriegel vom Sozialamt bezahlen lassen. Das sei schon eine rechte Schinderei, wendet Onkel Arthur ein, und ob er sich denn im klaren darüber sei, daß auf diese Weise mit den familiären auch die letzten sozialen Beziehungen flöten gingen. Fritzi hat sich bereits die Pedale angeschnallt, hält aber noch kurz inne, um klarzustellen, daß er dies, was er da tue, selbstverständlich nur für eine Übergangszeit ausübe, und er sei auch schon dabei, Risikokapital für den finalen Break zu sammeln, indem er nämlich plane, mit einem früher Schul-, jetzt Geschäftsfreund gemeinsam einen Rikscha-Service aufzuziehen, der die gesamte Münchner Innenstadt und notfalls sogar ein paar Außenbezirke und Schlafstädte „bedienen“ solle, und während er dies alles in den schmalen Zeitkorridor seiner Startphase hinein äußert, hat er ganz übersehen, daß soeben Onkel Sigbert mit schwarzgetöntscheibigem Boliden am Eintreffen ist und, den Neffen gleichfalls übersehend, rückwärts in die Einfahrt hineinbricht. Als der Onkel, den Autoschlüssel wendig um den Finger karussellierend, seinem Gefährt entsteigt, äußert er zunächst den im Nachhinein als (glücklicherweise versehentlich) relativ hartherzig eingeordneten Kommentar, da sei ihm wohl schon wieder so eine „Speichensau“ vor die Stange gelaufen, betrachtet dann das Malheur wenig angetan und schließt sich nach Abtransport der unerfreulichen Angelegenheit der zunächst stockenden, nach einer Einführungsphase aber annähernd rundlaufenden Diskussion über die vergangene Karriere des nunmehr endgültig abgebremsten Fritzi an. Eine gute Idee sei das ja schon gewesen.

Eine Antwort auf „(Aus dem tiefen Archiv:) Wie wieder einmal ein Radkurier nicht kuriert worden ist“

  1. „Grüß Gott Herr Graf“, fragt der Verkehrspolizist, der Graf Dracula mit seinem dreckigen Mercedeskombi mit zwei Moutain-Bikes auf dem Dach des Autos nächtens anhält-„ham Sie was getrunken?“ „zwei Radler, des is ois“

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen