Junger Unfug (Folge 8): Töpfe und Flaschen

Die Kinder in dieser Station erwiesen sich als viel interessanter als die banalen Knochenbrüche im anderen Stockwerk. Sie bekamen riesige Spritzen in den Rücken, hatten Nieren oder falsches Blut.

Ich war in der ganzen Station der einzige, der nicht aufstehen durfte. Mein rechtes Bein war mit Verbänden an eine geknickte Schiene gebunden, obwohl man mir sagte, ich hätte nichts gebrochen, sondern nur eine Prellung. Jeden Morgen wechselte die Schwester den Verband, nachdem sie bei den anderen Kindern Fieber gemessen hatte. Dann kam Jod auf die Wunde, die Ärzte sahen sich das Knie an und gingen zum nächsten Bett.

Die Schwester hatte eine besondere Art, den Verband zu binden: das Heldenmuster. Das ging zweimal rechts vor, einmal links vor, einmal rechts zurück und umgekehrt. Sie zeigte mir stolz, wie das Muster gemacht wurde, und ich merkte es mir. Als abends die Lichter ausgeschaltet wurden und die Schwestern gingen, stiegen die Kinder aus den Betten und tobten durch die Station. Staunend sahen sie mich eines Nachts plötzlich auch im Gang stehen. Der Junge mit dem falschen Blut zeigte mir seine Freundin, ein dünnes, blasses Mädchen, das im Krankenhaus war, weil es immer in Ohnmacht fiel. Alle trugen Schlafanzüge und Nachthemden und liefen leise kichernd durch die Station, verschwanden in einem Zimmer und kamen lachend wieder raus.

Ich hatte das Bett nicht verlassen, um bei den anderen zu sein, sondern weil ich ganz dringend aufs Klo mußte. Da ich nicht aus dem Bett durfte, hatte man mir eine flache Flasche und einen Blechtopf ins Nachtkästchen gestellt, aber ich konnte die Flasche nur selten und den Topf gar nicht benützen. Manchmal erklärte ich den Ärzten bei der morgendlichen Visite, ich hätte aus Versehen Tee verschüttet, was sie widerwillig akzeptierten.

Aber für den Blechtopf mußte ich eine Lösung finden. Jeden Morgen lief die Schwester von Zimmer zu Zimmer und wollte wissen, ob man groß oder klein gewesen sei, und ich wurde mit der Zeit verdächtig. Meine Mutter kam und brachte mir getrocknete Zwetschgen. Die hatte es bei uns noch nie gegeben. Tatsächlich hatte ich in der Nacht danach besonders schwer mit den Vorgängen in meinem Unterbauch zu kämpfen, weshalb ich beschloß, mein Wissen über das Heldenmuster zu nutzen.

Es gab zwei Türen, die nicht aus Glas waren; eine davon war das Klo. Ich fand es etwas seltsam, auch das Klopapier, das nicht auf Rollen war, sondern aussah wie große Tempotaschentücher; und daß es keine Spülung gab, fiel mir erst auf, als es zu spät war. Aber ich war zu froh, daß sich meine Bedrängung löste, um nachzudenken.

Als ich wieder im Bett lag und das Heldenmuster erneuert hatte, schlief ich den friedlichsten und schönsten meiner sieben oder acht Krankenhausschläfe. Daß am nächsten Morgen durch die ganze Station gebrüllt wurde: „Welches Schwein hat die Sauerei in der Hygienezelle angerichtet!“, war schrecklich, aber es ging bald vorbei, und ich kam sowieso nicht in Betracht, weil ich nicht aufstehen konnte. Die tägliche Frage nach groß und klein machte mir danach allerdings eher noch mehr Sorgen, weil mich die Schwestern immer seltsamer ansahen.

(„Junger Unfug“ begann ungefähr 1996 mit der Idee, Erinnerungen aus meiner Kindheit aufzuschreiben und sie irgendwie motivisch zu etwas „Sinnvollem“ zu verbinden. Nachdem keiner der etwa hundert Verlage, denen ich Textauszüge und eine Beschreibung des „Projekts“ zuschickte, in irgendeiner Weise reagierte, erschienen die Texte auf einer längst gelöschten Webseite und blieben auf einer alten Festplatte liegen. 2018 oder 2019 fand ich sie wieder, schrieb ein bißchen weiter und vergaß die Sache erneut. Vielleicht kommt irgendwann der „richtige Zeitpunkt“. Vielleicht ist er jetzt. Ob ein Buch daraus wird, weiß ich noch nicht.)

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