(Aus dem tiefen Archiv:) Was ist eigentlich Herbert Rosendorfer für einer?

(Anmerkung: Der folgende Text entstand im Januar 2004 zum siebzigsten Geburtstag des Schriftstellers und erschien damals in der Süddeutschen Zeitung. Hier erscheint er aufgrund der leider nicht zu verleugnenden Tatsache, daß Herbert Rosendorfer am 20. September vor elf Jahren gestorben ist. Verändert oder aktualisiert wurde nichts.)

Wer vor einigen Jahren in München Literatur studierte, der konnte, wenn er Glück hatte, ein ziemlich schockierendes Erweckungserlebnis erfahren: „Wenn Sie nicht jede Zeile von Kafka kennen, sind Sie hier falsch“, lautete der Einführungssatz in ein Seminar über den verschrobenen Heimlich- und Geheimnisschreiber, und die nicht mehr ganz so vielen, die danach noch bleiben wollten, erfuhren sodann, es sei vollkommen sinnlos, sich mit den „Hekatomben von Sekundärliteratur“, die auf Kafkas Werk wuchern wie ein krebskranker Pilz, auch nur peripher zu befassen. Da wurden die Interessierten noch einmal weniger – die blaßgesichtigen Theoriepflücker schlichen den scheinesammelnden „Studium & Karriere“-Hauptwerkblätterern hinterher; übrig blieben ein paar nun aber wirklich Glückliche, deren Einstellung zu und Begriff von Literatur sich in den folgenden Wochen gründlich ändern sollte, spätestens als sie am Ende gebeten wurden, statt einer der üblichen Seminararbeiten zu Begriffen, Formeln und anderem Zeug doch lieber den „Schloß“-Roman zu Ende zu schreiben. Nicht wenigen von ihnen stand da wieder oder immer noch die Frage ins Gesicht geschrieben, mit der sich die vorab Gegangenen verabschiedet hatten: Was ist denn das für einer?

Das Arsenal der Phrasen hält vieles bereit, was man dem vor 70 Jahren via Bozen in die Welt hineingeborenen Herbert Rosendorfer an den Kopf werfen könnte und geworfen hat, vom – Gott bewahre! – „Querdenker“ über den „Buster Keaton der Literatur“ (Friedrich Torberg) bis zum „Humoristen“, den ihn ein Reich-Ranicki einst bewundernd geschimpft hat. Wie das mit Phrasen so ist, trifft jede davon irgendwie zu oder auch nicht; der Erkenntnisgewinn ist in jedem Fall gleich null. Empfohlen sei die Anwendung der eingangs erwähnten rosendorferschen Methode – kein Leichtes indes bei ungefähr sovielen Büchern, wie man sie in einem modernen Neubauviertel insgesamt nicht finden wird, und mit der Mahnung im Hinterkopf, es sei ein Unfug, sich Büchern nähern zu wollen, indem man sich einer Person nähert, die in den Büchern doch vielleicht gar nicht vorkommt. Man landet gerne bei Stereotypen, etwa dem des fabulierenden Juristen (eine wimmelnd vielköpfige Spezies, zu der ja im Grunde auch Kafka gehörte); man landet endlich auch bei der Frage, wozu denn ein Werk (zumal ein solches!) gut sein soll, wenn man am Ende bloß die Person dahinter erkennen möchte.

Obwohl in München aufgewachsen und wohl auch großgeworden im Werksinn, mag er ein Deutscher nicht sein; die Leichtigkeit und flirrend-farbige Chaoslust des Italieners ist dem nach Ende seiner juristischen Tätigkeit nach Südtirol Zurückgekehrten näher und lieber als die impertinente Regelungswut des Alpennordseitbewohners, deren Scharfrichterbeil und Paragraphenschlinge alles aufs Mittelmaß zusammenmeuchelt, selbst die eigene Sprache, die zugunsten stammelnder Pisa-Schüler zum Krüppel reformkastriert wird – die Geisteshaltung, die in derartigem sich niederschlägt, ist ihm das Greuel aller Greuel. Fremd ist ihm aber auch der Furor des Eiferers zumal sozialrevolutionärer Provenienz, der vom Katheder aus kollektives Leben dem Heil entgegenführen möchte, dessen Details er weder kennt noch versteht oder gar liebt.

Genau: liebt. Denn so unmöglich es der Humanist Rosendorfer den Aufbrechern, den Begeisterten und Zukunftsfanatikern macht, aus seinen Büchern anderes herauszulesen als Kulturpessimismus, Fortschrittsverweigerung, Zeitungemäßheit – er glaubt zwar, daß die Menschen als solche schlecht sind, doch gibt er dem heutzutage so viel und gerne beschworenen „Menschenmaterial“ in seinen Geschichten die ihm gemäße Würde zurück (der Unterschied zwischen dieser und dem bösen Stolz ist übrigens eines der vielen Grundthemen der Werke eines Schriftstellers, den das Gedrucktwerden 1966 bezeichnenderweise „wie ein Meteor“ traf, weil er sich nach einigen kränkenden Ablehnungsbriefen entschlossen hatte, Verlagen keine Manuskripte mehr anzubieten); und er liebt nicht nur die schrägen Vögel mit den Kleppermänteln, die Eremiten, Solipsisten, diversen Wähnen Verfallenen, die seine abseitigsten und boshaftesten Bücher bevölkern, sondern das Leben als solches und seine menschlich-historischen Ab-, Irr- und Hinwege, und manchmal möchte es einem beim zufälligen Blättern im Rosendorfer-Regal vorkommen, als hätte er sich vorgenommen, sie alle samt und sonders aufzuschreiben – in der jeweils gemäßen Form. Etüden in sanftem Zynismus wie der „Liebhaber ungerader Zahlen“, überquellende Panoptika des Irrwitzes wie der „Ruinenbaumeister“ und die „Deutsche Suite“, der valentineske, schreiend komische Alltagswahnsinn der „Vorstadtminiaturen“, die anrührend persönliche Tiefe etwa jener letzten, schlicht „Nachwort“ betitelten Erzählung aus „Ball bei Thod“, vor sprachmächtigem Detailwitz und einer gesunden, von Wärme umkränzten Menschenfeindlichkeit (die, wie stets in solchen Fällen, in Wirklichkeit nicht dem Menschen, sondern seinen – meist kollektiv erzeugten – mediokren Wallungen und Dünsten gilt) sprühende Glossen, Anekdoten, Kritiken, Interpretationen stehen einträchtig nebeneinander. Nicht nur Geschehnisse und Personen, auch die Orte changieren zwischen handfestem Lokalkolorit, romantischer Entrücktheit und mythelnder Bizarrerie; doch ganz frei erfunden hat der Liebhaber des Butlerschen „Erewhon“ wenig davon – die Welt ist eben größer, tiefer, verwinkelter und unfaßbarer, als man meint; und wenn die Literatur überhaupt einen „Sinn“ hat, dann schwebt er hier.

Von den Großkritikern ist Rosendorfer meist ignoriert worden; wir dürfen annehmen: weil sie ahnen, daß sie ihm nicht gewachsen wären und jeder Versuch eines Urteils im Fettnapf enden müßte. „Wirkliche Kunst“, schrieb er 1987, „ist nur, was die Experten nicht restlos verstehen.“ Und Literatur ein Spiel: ein ernstes, doch heiteres, leichtes, doch abgründiges, in dem sich das Reale immer wieder in weiche Nebel hüllt und groteske Masken aufzieht, um deutlicher in Erscheinung treten zu können, als das in der digitalen Brachialität der „Fakten“ (von denen Rosendorfer im Zweifelsfalle mehr parat hätte als alle gängigen Lexika – als ich einst, durch Zufall in den Besitz eines Schriftstücks gelangt, das eine nebensächliche Behauptung in einem Rosendorferschen Aufsatz widerlegte, ihn diesbezüglich anzusprechen mich noch nicht einmal angeschickt hatte, war die nebensächliche Behauptung aus der nächsten Auflage bereits getilgt) ginge. Da ist er manchmal Urs Widmer nahe, auch Lawrence Sterne, Gilbert Keith Chesterton (mit dem er neben dem enzyklopädisch wuchernden Werkumfang auch eine gewisse optische Ähnlichkeit aufweist, wenn man sich dessen Grimmigkeit weg- und den Scheitel auf die andere Seite denkt) und am Ende Kafka selber; doch lassen sich Vergleiche nur an langen, schmerzenden Haaren herbeiziehen und sollten deshalb unterbleiben. Nicht selten übrigens reicht das Spiel über die Buchdeckel hinaus in die Realität hinein, wenn Rosendorfer jene, die die Geisteswissenschaften unter den Ochsenziemer technokratischer Methodik zwingen wollen, an der Nase herumführt, etwa indem er einen Komponisten erfindet, dessen Werke inzwischen von einer eigens gegründeten Gesellschaft nicht nur erforscht, sondern, wie man hört, sogar aufgeführt werden.

Es ist, wie sich schon in solchen Eskapaden zeigt, mit der Literatur nicht getan; doch kann ich zum Musiker und Komponisten Rosendorfer mangels Sachkenntnis nicht viel sagen, zum zeichner- und malerischen Werk immerhin soviel, daß der Strich seiner Feder und seines Pinsels dieselbe belustigte Detailfreude, denselben Geist von groteskem Witz aufweist wie seine Sprache. Man kann an Roland Topor und Edward Gorey denken, wenn man mag, an Wilhelm Busch freilich auch, doch beides will ich lieber unterlassen, denn zu einer gültigen Einordnung fehlt mir der Verstand – selbigen immerhin drohte angesichts der Wagner-Zyklen des (dem deutschen Großtöner durchaus zugeneigten) Bildkünstlers Rosendorfer auch manch aufrechter Wagnerianer zu verlieren.

Was also ist nun Herbert Rosendorfer für einer? Vorsichtige Annäherung: ein ganz Großer im Kleinen, ein Naiver, der alles weiß und kennt, ein über die Maßen Gebildeter, der nie zum Experten verkommen ist, ein lächelnder Flaneur im Hagelsturm des Weltrasens, ein romantischer Pessimist; ein Solitär, dessen Geschichten noch lohnende Rätsel aufgeben werden, wenn alles, was uns heute an scheinbaren Wichtigkeiten umgibt, vergessen ist. Einer, den man nicht bezeichnen kann, ohne „und doch auch wieder nicht“ anzufügen; weshalb der fruchtlose Versuch hier enden soll mit dem Wunsch, er möge gesund, glücklich und so lange wie nur möglich der bleiben, der er ist.

(Das Photo entstand am 20. Juli 1996 und trägt den Vermerk: „Herbert Rosendorfer stellt fest, daß Murnau groß genug ist, seinem Sohn Ödön Horvàth den Weg zu widmen, auf dem er fortgegangen ist“.)

7 Antworten auf „(Aus dem tiefen Archiv:) Was ist eigentlich Herbert Rosendorfer für einer?“

  1. Bei einigen Büchern von ihm habe ich ihn als Autor vor mir gesehen: in einem bequemen Lehnstuhl sitzend, mal mit Blick aus dem Fenster auf waldiges Bergland, mal vor dem Feuer im offenen Kamin, ein Glas Roten auf dem Beistelltisch (nur für alle Fälle) und den Text einem interessierten Gegenüber diktierend, mit einem schmunzelndes Lächeln im Gesicht: bei denen seiner Deutschen Geschichte. Prost Herbert Rosendorfer und danke Michael für die Erinnerung, auch an diesen schönen und ihm würdigen Text.

  2. Sie konnten schreiben, Herr Sailer. Damals. Das ist ein schöner, berührender Text! Von damals, als der Furor des Eiferers in weiter Ferne lag und Sie noch nicht in dessen Falle leider Gottes getappt sind.

    1. Ach, Nicole … fühlen Sie sich immer noch wohl auf der Geisterfahrerspur? Fragen Sie sich doch mal, wo und wann man Sie in die falsche Richtung gekeilt hat. Man muss sich ja nicht schuldig fühlen, das konnte jedem passieren und ist vielen passiert.
      Aber die vielen entgegenkommenden Scheinwerfer … sind die wirklich alle „Eiferer“?

    2. Erstaunlich, mit wie viel Eifer Sie versuchen, Herrn Sailer ans Bein zu pinkeln. Widerlegen Sie ihn doch einfach mal.

      „»Du hast nicht recht!« Das mag wohl sein;
      Doch das zu sagen, ist klein;
      Habe mehr recht als ich! das wird was sein.“
      (Goethe)

    1. Ich weiß nicht mehr genau, wo, aber irgendwo hat der Herbert was von Clemens Franckenstein erzählt und zu seinen Gunsten angeführt, daß er als Intendant der bayerischen Staatsoper nie eines seiner eigenen Werke zur Aufführung gebracht habe. In meinem Riesenarchiv an Zeug gab es aber ein Programmheft zu einer Aufführung von Franckensteins „Li-Tai-Pe“ an der bayerischen Staatsoper … (so ungefähr)

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    Jenifer Markly    

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