Junger Unfug (Folge 2) – Flöhe und Frösche

Schon bevor ich Fußball spielen konnte und auch nur wußte, was Fußball ungefähr ist, mußte ich in den Kindergarten. Das war anfangs eigentlich ganz schön, auch wenn die anderen Kinder oft betonten, daß es noch kurz zuvor gar nicht schön gewesen sei, als Frau Brennlein noch da war. An Frau Brennlein war schon der Name außergewöhnlich: Alle anderen Kindergartenfräuleins, die ich aus Berichten anderer Kinder und eigener Erfahrung kannte, hießen nicht „Frau“, sondern „Fräulein“.

Vor allem hatte Frau Brennlein offenbar die Angewohnheit gehabt, selbst kleinste Verfehlungen zu bestrafen, indem sie die Kinder ausgiebig verdrosch. Die anderen Kinder erzählten mit großen Augen davon, wie sie Watschen verteilt und Hintern versohlt hatte, weil jemand aus Versehen etwas kaputtgetreten oder hinterfotzig gegrinst hatte, wenn ein anderer etwas kaputtgetreten hatte. Vor Frau Brennlein hatten alle, die sie noch erlebt hatten, Angst.

Eines Tages hieß es: Unser Kindergarten kriegt Besuch. Es war Frau Brennlein, und als sie den Raum betrat, in dem wir uns zum Essen und bei schlechtem Wetter auch zum Spielen aufhielten, rannten alle Kinder, die sie noch erlebt hatten, jauchzend und freudestrahlend auf sie zu, und Frau Brennlein stand ebenfalls freudestrahlend da und stolperte beinahe, weil ihr drei Kinder auf den Arm gesprungen waren und die übrigen sich an ihre Beine klammerten, als wollten sie sie nie mehr gehen lassen.

Frau Brennlein mußte bald wieder gehen, aber die beiden Fräuleins blieben da. Sie hießen Fräulein Deckenbach und Fräulein Schreiber, und sie schlugen niemanden. Allerdings waren sie manchmal nicht damit zufrieden, wie einzelne Kinder mit Nahrungsmitteln umgingen. Kenan, ein türkischer Junge, konnte das Mittagessen nicht essen. Ich weiß nicht, ob es ihm nicht schmeckte oder ob er es nicht vertrug. Das Essen bestand oft aus einer braunen Soße mit ein paar Erbsen und Nudeln, Kartoffeln oder Reis.

Kenan betrachtete den Teller und sagte, er könne das nicht essen. Fräulein Deckenbach oder Fräulein Schreiber sagte, solange er nicht aufgegessen habe, dürfe er nicht vom Tisch aufstehen. Also blieb Kenan regungslos vor dem Teller sitzen. Nach einiger Zeit erinnerte er sich offenbar, daß wir nach dem Essen zum Spielen in den Hof durften, und er betrachtete den Teller genauer. Die anderen Kinder waren fast fertig mit dem Essen.

Fräulein Deckenbach oder Fräulein Schreiber nahm Kenans Hand, steckte den Löffel hinein, tunkte ihn in das Essen und zwang den Löffel zu Kenans Mund, der nach kurzer Verweigerung aufging. Kenan machte eine Kaubewegung, vielleicht schluckte er sogar, und dann spuckte er das Essen wieder auf den Teller. Der Löffel und die Fräuleinhand zwangen das soeben Ausgespuckte wieder in seinen Mund, und so ging es weiter, bis einer der beiden – Mund oder Löffel – aufgab.

Ein Problem war auch das Trinken. Zu trinken gab es im Kindergarten lauwarmen, sehr süßen Hagebuttentee, den manche Kinder auf keinen Fall trinken wollten. Statt dessen drehten wir, wenn der Durst vom Spielen zu stark wurde, im Klo den Wasserhahn auf, hielten den geneigten Kopf mit weit geöffnetem Mund seitlich darunter und ließen literweise Leitungswasser in unseren Bauch fließen. So viel, daß der Bauch danach bei jeder Bewegung leise gluckste.

Das Glucksen entging den Fräuleins nicht. Wenn sie es hörten, riefen sie alle Kinder zusammen und schärften ihnen ein, es sei absolut verboten, Wasser aus dem Wasserhahn zu trinken, weil man davon Flöhe im Bauch bekomme. Einige Kinder glaubten diese Geschichte und hielten sich an das Verbot; andere hatten zu großen Durst, aber noch nicht genug Durst, um die klebrig warme Süße des Hagebuttentees zu ertragen.

Eine Tages waren Fräulein Deckenbach und Fräulein Schreiber gleichzeitig erkrankt, und so mußte uns ein Aushilfsfräulein beaufsichtigen. Wenn wir ihren Namen je erfuhren, vergaßen wir ihn jedenfalls gleich wieder. Dieses Fräulein rief als erste Amtshandlung sämtliche Kinder zusammen und ermahnte sie energisch, auf keinen Fall Wasser aus dem Wasserhahn zu trinken, weil man davon Frösche im Bauch bekomme.

Nun war auch den Kindern, die zuvor aus Angst vor Flöhen im Bauch kein Wasser mehr getrunken hatten, klar, daß hier ein Schwindel vorlag. Und von da an wurden die Wasserhähne wieder so ausgiebig frequentiert, daß man manchmal schlangestehen mußte.

(„Junger Unfug“ begann ungefähr 1996 mit der Idee, Erinnerungen aus meiner Kindheit aufzuschreiben und sie irgendwie motivisch zu etwas „Sinnvollem“ zu verbinden. Nachdem keiner der etwa hundert Verlage, denen ich Textauszüge und eine Beschreibung des „Projekts“ zuschickte, in irgendeiner Weise reagierte, erschienen die Texte auf einer längst gelöschten Webseite und blieben auf einer alten Festplatte liegen. 2018 oder 2019 fand ich sie wieder, schrieb ein bißchen weiter und vergaß die Sache erneut. Vielleicht kommt irgendwann der „richtige Zeitpunkt“. Vielleicht ist er jetzt. Ob ein Buch daraus wird, weiß ich noch nicht.)

2 Antworten auf „Junger Unfug (Folge 2) – Flöhe und Frösche“

  1. Essenszwang gab es zuhauf, bei den Verschickungskindern. (6-8 wöchige Erholungskuren für Kinder. Manchen wurde auch Essen entzogen, doch die angeblich zu Dünnen mußten essen. Manche wurden auch zwangsgefüttert. Reine Folter.

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen