Die schöne Zeit im Kindergarten ging schlagartig zu Ende. Eines Tages verkündeten Fräulein Deckenbach und Fräulein Schreiber, morgen komme der Nikolaus.
Ich wußte nicht genau, was der Nikolaus war, weil in unsere Wohnung noch nie der Nikolaus gekommen war. Der Nikolaus, klärte mich ein etwas älteres Mädchen auf, sei nicht so schlimm, aber er habe den Krampus dabei. Auf meine Frage, was nun wieder ein Krampus sei, sprang ein anderer Junge dazwischen und erklärte mit bedrohlicher Stimme, der Krampus stecke die Kinder, die etwas angestellt hätten, in den Sack und verprügle sie mit einer schweren Eisenkette.
Ich war mir nicht sicher, ob ich etwas angestellt hatte. Die Wahrscheinlichkeit war jedoch sehr groß: Meistens, wenn ich etwas anstellte, bemerkte ich erst dann, daß ich etwas angestellt hatte, wenn man mich darauf hinwies, indem man mich schimpfte. Ich ging davon aus, daß einen großen Teil meiner Anstellungen niemand mitbekam, der Krampus, der offenbar eine Art heiliger Geist und also sicher allwissend oder zumindest allsehend war, aber doch.
Also sagte ich am nächsten Morgen zu meiner Mutter, ich dürfe auf keinen Fall in den Kindergarten gehen. Sie verstand die Dringlichkeit meines Anliegens nicht, zog mir die Stiefel an und sagte, ich solle kein Theater machen. Von Todesangst durchflutet wehrte ich mich verzweifelt weinend und schreiend dagegen, zum Kindergarten gezogen zu werden, aber ich hatte keine wirkliche Chance und konnte unser Eintreffen dort nur geringfügig hinauszögern.
Nachdem meine Mutter mich abgeliefert hatte und gegangen war, mußten wir uns zunächst wie immer im Schlafsaal noch eine Stunde auf die Holzliegen legen, zudecken und schlafen. Ich bekam auf diesen Liegen selten ein Auge zu; heute zitterte ich vor Angst und schmiedete panische Fluchtpläne. Es gab dann aber erst einmal keinen Sack und keine Prügel, sondern wie üblich lauwarmen Hagebuttentee und eine Semmel zum Frühstück; danach wurde wie üblich gespielt.
Irgendwann ging die Tür auf, und herein trat ein Mann in einem rotweißen Bademantel mit Kapuze und einem Stock in der einen, einem großen Buch und einem Sack in der anderen Hand. Er trug einen Bart, der offensichtlich aus Watte bestand, sprach mit absichtlich tiefer Stimme, stellte sich als Nikolaus vor und sah insgesamt sehr lustig aus. Alle Kinder lachten, und ich lachte auch, obwohl mir der Sack in seiner Hand nicht ganz geheuer war.
Dann fragte der Mann, wer etwas angestellt habe, und ein Mädchen meldete sich. Der Nikolaus öffnete das riesige Buch, las etwas daraus vor, was ich nicht verstand, und erklärte dem Mädchen, es habe sich gegenüber seinen Eltern respektlos benommen und das tue man nicht. Ja, sagte das Mädchen, und es tue ihr sehr leid. Daraufhin zog der Mann ein Stück Schokolade aus seinem Sack und gab es dem Mädchen.
Als ich den Jungen, der von dem Krampus erzählt hatte, später danach fragte, sagte er, der Krampus habe möglicherweise Urlaub, ich solle mich aber lieber nicht zu früh freuen. Ich dachte an die Flöhe und Frösche im Bauch und vergaß den Krampus sehr bald.
Der Winter, der bereits vor dem Besuch des Nikolaus irgendwann unbemerkt begonnen hatte, dauerte lange. Die meiste Zeit durften wir nicht hinaus in den Hof, sondern mußten drinnen spielen. Als dann eines Tages nach dem Frühstück, als alle Kinder vom Wassertrinken auf dem Klo zurückwaren, Fräulein Deckenbach und Fräulein Schreiber verkündeten, das Wetter sei schön genug, um draußen zu spielen, brach großer Jubel aus.
In den Hof ging es durch das gläserne Hintertor des Kindergartens zunächst auf eine kleine Terrasse mit Brüstung, von der links und rechts eine steinerne Treppe hinabführte. Wir mußten uns in Zweierreihen hintereinander aufstellen, dann wurde das Tor geöffnet. Fräulein Deckenbach schritt voran, Fräulein Schreiber führte als Nachhut die Aufsicht. Auf der zweitobersten Stufe der Treppe stellte mir mein Freund Solkan, der neben mir ging, ein Bein und ließ gleichzeitig meine Hand los. Ich war so überrascht, daß ich mit dem Gesicht auf die rauhe, mit Blasen, scharfen Kanten, Spitzen und Löchern gesprenkelte Treppe fiel und den Rest der Strecke rutschte und rollte.
Meine Unter- und Oberlippe platzten und fingen sprudelnd zu bluten an. Schreiend stand ich auf. Fräulein Schreiber nahm mich bei den Schultern, betrachtete mein versehrtes Gesicht, tupfte mit einem Taschentuch auf das Blut und versuchte mich zu trösten: Es tue bald nicht mehr weh.
Aber sie verstand den Ernst der Lage nicht: Mein Mund war völlig unbrauchbar. Ich würde nie wieder etwas essen können und daher hilflos verhungern müssen. Verzweifelt versuchte ich ihr das begreiflich zu machen, aber mein Mund war auch zum Sprechen nicht mehr zu gebrauchen, außerdem mußte ich gleichzeitig heulen und schreien.
Das Bluten hörte bald auf, und beim Mittagessen konnte ich auch wieder einigermaßen essen. Danach stellten wir uns wieder in Zweierreihen vor dem Hintertor auf. Diesmal nahm ich Sabines Hand, und alles ging gut.
Im Sandkasten, in dem ich am liebsten spielte, in Formen Kuchen aus Sand zubereitete, sie mit trockenem weißen Pulversand bestäubte und auf dem Kastenrand zum Verkauf anbot und zwischendurch das Sandsieb als Mütze aufsetzte, um die anderen Kinder zum Lachen zu bringen, gab es eine einzige Schaufel aus Eisen, die seitlich nicht umgebogen war, sondern eine scharfe Kante hatte. Diese Schaufel war sehr beliebt, weil man damit tiefer als mit den biegsamen Plastikschaufeln in den Sandkasten hineingraben und den schweren dunklen Sand von weit unten abbauen konnte.
Ich ließ die Schaufel nicht aus den Augen, und als sie einen Moment herrenlos im Sand lag, ergriff ich sie und schlug sie Solkan so auf den Kopf, daß ihm die Kante eine blutende Platzwunde zufügte. Er schrie, sein Schädel sei gespalten und er müsse sterben, und ab da waren wir einerseits nicht mehr und andererseits noch mehr befreundet als zuvor.
(„Junger Unfug“ begann ungefähr 1996 mit der Idee, Erinnerungen aus meiner Kindheit aufzuschreiben und sie irgendwie motivisch zu etwas „Sinnvollem“ zu verbinden. Nachdem keiner der etwa hundert Verlage, denen ich Textauszüge und eine Beschreibung des „Projekts“ zuschickte, in irgendeiner Weise reagierte, erschienen die Texte auf einer längst gelöschten Webseite und blieben auf einer alten Festplatte liegen. 2018 oder 2019 fand ich sie wieder, schrieb ein bißchen weiter und vergaß die Sache erneut. Vielleicht kommt irgendwann der „richtige Zeitpunkt“. Vielleicht ist er jetzt. Ob ein Buch daraus wird, weiß ich noch nicht.)