(periphere Notate): Wespen über der Herde

Im April 2019 berichtete die Journalistin Emily Witt über eine Jahrhundertepidemie, die 1996 in drei Wellen über die USA hereingebrochen war und mittlerweile mehr Todesopfer forderte als der Straßenverkehr. Es gibt dazu eine Unzahl von grotesken und grauenhaften Berichten: überfüllte Leichenhallen im Rust Belt, Eltern, die während der Baseballspiele ihrer Kinder auf der Tribüne sterben, Mitarbeiter eines Kaffee-to-go-Konzerns, denen man im Rahmen ihrer Ausbildung beibringt, zusammengebrochene Kunden mit speziellen Medikamenten wiederzubeleben, verwüstete Stadtviertel und Landkreise, wo niemand mehr gesund ist und die Kranken einander fürchten. Die Zahl der Toten wuchs von 1999 bis 2017 um das sechsfache, allein 2017 waren es fast 50.000, die offiziell registriert wurden (die Dunkelziffer ist hoch). Auf dem Höhepunkt der Seuche stellte man fest, daß erstmals in der Geschichte der USA die durchschnittliche Lebenserwartung zurückging.

Anders als bei den meisten Seuchen gab und gibt es in diesem Fall schuldige Täter, die in aufwendigen Mammutverfahren ermittelt und zum Teil sogar angeklagt wurden. Drei davon sagten im Juli 2021 Zahlungen von 1,1 Milliarden Dollar zu, um die Einstellung eines der vielen Verfahren wegen der Tötung hunderttausender Menschen und der Schädigung von weiteren Millionen zu erwirken. Ein weiterer zahlte 230 Millionen. Bei diesem handelt es sich um den Pharmakonzern Johnson & Johnson. Ein anderer Schuldiger, der Pharmakonzern Pfizer, konnte sich mittels Korruption einer Klage entziehen.

Bei der Seuche handelt es sich um die verheerende Opioidsucht, die ab 1996 durch die Einführung des Medikaments Oxycontin zur kontinentweiten Epidemie wurde. Ihr folgte eine Welle der substitutiven Heroinsucht und eine dritte Welle durch das innovative, noch tödlichere Nachfolgemedikament Fentanyl. Ein kaputtprivatisiertes Gesundheitssystem, „deregulierte“, durch und durch korrupte Regulierungsbehörden, bezahlte „Studien“ ebenso korrupter Wissenschaftler, leichtgläubige und dumme Ärzte, Politiker, die der Pharmalobby hörig sind, und ungeheure Reklamekampagnen schufen das Biotop, in dem das Pharmaunternehmen Purdue mit Oxycontin „einen Blizzard von Verschreibungen auslösen“ konnte, wie dessen Vizepräsident bei der Markteinführung der Droge prophezeite, „der unsere Konkurrenz unter sich begraben wird. Der Verschreibungsblizzard wird heftig, dicht und weiß sein …“

Die Regierung hob Werbebeschränkungen für Arzneimittel auf und erlaubte Kampagnen mit Teddybären, Tassen, Wasserflaschen, Tonträgern und anderen Werbemitteln. Wissenschaftler erfanden reihenweise neue Schmerzkrankheiten und belegten in „Studien“ die Unschädlichkeit und Sicherheit der synthetischen Opiate. Medien verbreiteten Propagandavideos und -geschichten. Mahner und Aufklärer wurden als Hetzer, Verrückte und „Verschwörungstheoretiker“ beschimpft. Gerichte ließen zehn Jahre lang sämtliche Klagen umstandslos abblitzen oder gar nicht erst zu. Erst 2006 mußte Purdue erstmals 600 Millionen Dollar Strafe für eine Falschbehauptung (Oxycontin sei „sicherer“ als der Grundstoff Oxycodon) zahlen.

Purdue und mehrere andere Pharmafirmen meldeten infolge der späteren, bis heute laufenden Prozesse Konkurs an, allerdings steht die Purdue-Inhaberfamilie Sackler (die sich allein von 2007 bis 2016 vier Milliarden Dollar auszahlen ließ) nun persönlich vor Gericht. Johnson & Johnson und Pfizer hingegen wurden ab 2020 durch ein weiteres neues Medikament (einen gentechnischen „Impfstoff“) reicher als je zuvor. Die Seuche grassiert weiterhin, aber von den Opfern der Giftprodukte hört man nicht mehr viel. Es ist anzunehmen, daß sie in der Statistik der „an und mit Covid-19 Verstorbenen“ verschwunden sind.

Das kollektive Gedächtnis der Menschen ist vergeßlich. Alle paar Jahre wieder mögen sich nur wenige vorstellen können, daß kriminelle Pharmakonzerne „so etwas“ zu tun nicht nur fähig, sondern auch willig sind. Einige wenige davon vermuten, die kriminelle Absicht ziele auf einen Genozid zur Verminderung der menschlichen Bevölkerung insgesamt. Solche absurden Hirngespinste sorgen dafür, daß die Naiven erst recht nicht daran glauben mögen, daß Pharmakonzerne „so etwas“ tun. Ihr Gedächtnis ist deshalb so gnädig wie ein Opioid.

Inzwischen wird eine vierte Welle erwartet. Das neue Opioid der Wahl heißt Buprenorphin und ist so wirksam, süchtigmachend und tödlich, daß seine Dosierung nicht mehr in Milli-, sondern in Mikrogramm angegeben wird.

In der Schule hat man uns beigebracht, daß Insekten keinerlei Intelligenz und deshalb auch kein Gedächtnis haben. Sie handeln rein aus Instinkt, hieß es, und reagieren zum Beispiel auf die Duftsignale von Blüten. Nun ist in diesem Jahr wegen des langen, kühlen Vorfrühlings einiges arg verspätet. Der Schmetterlingsflieder (der seinen Namen nicht seinem Aussehen verdankt) sollte um den 12. Juli herum blühen, fängt aber jetzt erst ganz zaghaft an (der violette immer drei Tage vor dem lila Geschwister, der weiße läßt sich eine Woche länger Zeit). Seit fast einer Woche schwirren die Schmetterlinge bandenweise heran und umkreisen ratlos den Busch, flattern verwirrt in der Gegend herum und versuchen es am nächsten Tag erneut, mit wachsender Ungeduld. Die erinnern sich: Letztes Jahr war das anders! Da stimmt was nicht!

Instinktiv handelt vielleicht der Igel, der sich zusammenrollt, wenn er nachts einem Auto begegnet, um dem nahenden Raubtier mit den glühenden, bösen Augen keine Blöße zu bieten. Daß das Auto kein Raubtier, sondern eine Tötungsmaschine ist, kann er nicht ahnen, weil so etwas in seiner Vorstellungswelt nicht vorkommt. Auch diese Beschränktheit hat nichts mit (mangelnder) Intelligenz zu tun.

Der Irrtum beruht wahrscheinlich darauf, daß der Mensch unter „Intelligenz“ etwas ganz Eigentümliches versteht: die absolut instinktlose, rein logische Fähigkeit der Lösung von Problemen mittels Technik, die neue Probleme bereitet, die wiederum mit Technik gelöst werden müssen. Oder in der moderneren Variante: die Fähigkeit, technische Lösungen zu erfinden für Probleme, die dann mittels Werbung für die Lösung erst geschaffen werden. Ich erinnere mich aus meiner Kindheit an den Clearasil-Effekt, der funktionierte so. Vorher gab es nämlich keine Pickel.

Ein vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung ist das ans Internet angebundene Smartphone, das Millionen und Abermillionen von Lösungen bereithält, zu denen es keine Probleme gibt. Es ist nach menschlichem Maß zweifellos millionenmal intelligenter als der Mensch.

Intelligenz mißt der Mensch in Zahlen. Schmetterlinge messen nicht, weil sie das nicht nötig haben.

Die Intelligenz des Schmetterlings erweist sich daran, daß er ab der ersten Sekunde seiner Existenz ständig mit überraschenden, unvorhersehbaren, manchmal erfreulichen, oft auch gefährlichen Situationen und Ereignissen zurechtkommen muß (und das auch noch in drei völlig unterschiedlichen Körpern nacheinander!). Da ist es sicher schön, ein paar Regelmäßigkeiten anzutreffen, etwa einen Schmetterlingsflieder, der jedes Jahr zur gleichen Zeit blüht (auch das ist intelligent: zu wissen, wann diese Zeit ist, ohne Smartphone und Kalender) und süß schmeckt. Daß manche Schmetterlingsarten im Spätherbst über die Alpen, Italien und das Mittelmeer bis nach Nordafrika fliegen, sich dort den Winter über verlustieren und im Frühling nach München zurückkehren, sei nur am Rande erwähnt. Weil es nicht besonders viel Intelligenz braucht, um zu merken, daß es kalt wird, daß Kälte ungesund ist, daß es im Süden wärmer ist, daß es dort im Frühling zu warm wird und daß man zurück sein sollte, wenn der Schmetterlingsflieder blüht.

Menschen wissen so etwas nicht, können so etwas nicht und auch sonst nicht sehr viel. Dafür haben sie eine „künstliche Intelligenz“, die ihr Leben steuert und darauf beruht, daß man alles, was passieren könnte, rechnerisch aus dem herleitet, was schon passiert ist. Es darf (und kann) also niemals eine überraschende, unvorhersehbare Situation eintreten. Damit das nicht passiert, übt man die „überraschenden“, „unvorhersehbaren“ Ereignisse (Terror, Krise, Pandemie) ein paar Wochen zuvor in „Planspielen“, bis ins kleinste Detail. Zu den einzelnen Schritten, die dabei trainiert werden, gibt es grundsätzlich keine Alternativen. Dabei geht es nie um Intelligenz (oder gar Vernunft, sonst gäbe es Alternativen), sondern nur um Zahlen. Gestern 10, heute 40, morgen 200 und so weiter, exponentiell in alle Ewigkeit. Die Logik ist eine Funktion der Natur, aber die Natur ist kein Bestandteil der Logik und kann von dieser nicht erfaßt oder dargestellt werden.

Die Zahl erscheint klar, kühl und völlig unbeeinflußt, unberührt von Ideen und Ideologien. Das ist ein grundsätzlicher Denkfehler: Die Zahl als solche IST die Ideologie.

Das algorithmisch berechnete, geplante und gesteuerte Leben ist bei aller individuellen Vielfalt grundsätzlich alternativlos; es läßt keine Wahl. Wer als Kind erfährt, daß er seinen Anlagen gemäß später als IT-Controller eingesetzt werden und zwischen dem vierzigsten und den fünfundvierzigsten Lebensjahr höchstwahrscheinlich an Magenkrebs sterben wird, braucht keine Wahl. Und wählen muß er auch nicht, weil die künstliche Intelligenz durch Auswertung seiner gesammelten Daten besser weiß, welches Parteiprodukt er präferieren sollte.

Die Instinkte des Menschen sind zu einem großen Teil sekundär, andressiert. Wenn der Mensch an einen bestimmten Ort gelangen will, setzt er sich erst ins Auto, läßt dann – weil er evolutionsbedingt und aufgrund seiner unnatürlich großen Reichweite nicht in der Lage ist, sich zu orientieren – sein Navigationsgerät die Strecke berechnen und legt sie wie vorgegeben zurück, ohne auf anderes zu achten als die Angaben des Geräts. Mit jeder Strecke, die er so zurücklegt, nimmt seine Orientierungsfähigkeit weiter ab.

Tierische Instinkte sind manchmal nutzlos, weil sich die Situationen, in denen sie nützlich waren, verändert haben. So ist das bei Igel und Auto, so ist es auch im Fall der Wespe und des Schmetterlings, die geduldig versuchen, sich an Licht und Farben zu orientieren und immer wieder gegen die Fensterscheibe stoßen: Das Glas brachte der Mensch in die Welt.

Die Instinkte des Menschen hingegen sind oft widersinnig, weil der Zweck, zu dem sie ihm andressiert wurden, gar nicht oder nur als Absicht zum Nutzen eines anderen existiert. Selbst die Unlogik ist unnatürlich. Man sagt dem Menschen, daß er sich im Herbst und Winter in dicht besetzten, schlecht belüfteten Räumen mit Erkältungskrankheiten anstecken kann. Dann verbietet man ihm aufgrund einer hochgefährlichen, ansteckenden Erkältungskrankheit, die schlecht belüfteten Räume zu verlassen, vor allem nachts. Der Widersinn dieser Anordnungen wird dem Menschen nicht bewußt; er befolgt sie und nimmt nur ausnahmsweise drinnen seine Staubschutzfiltermaske ab, die ihn draußen vor einem Mangel an Kohlendioxid schützt.

Unbewußt aber spürt der Mensch, daß der ganze Komplex unsinniger und paradoxer Verhaltensanweisungen, denen er sich fügt, nicht nur paradox und unsinnig ist, sondern auch unangenehm, anstrengend und ungesund. Das macht ihn zornig. Seinen Zorn läßt er die Menschen spüren, die sich die Freiheit nehmen, den Anweisungen nicht zu folgen, weil er vermutet, daß man ihn genau deshalb zwingt, sich so zu verhalten, weil andere es nicht tun. „Erst wenn die auch gebrochen und unterworfen sind, werden wir alle wieder freigelassen!“ Daß dieser Gedanke noch widersinniger ist als das, was ihm sonst passiert, spielt schon keine Rolle mehr.

Die individuelle Feigheit möchte den Zorn administrativ umgesetzt sehen. Wer sich auf Demonstrationen gelbe Davidsterne ans Revers heftet, auf denen „ungeimpft!“ steht, muß sich (m. E. nicht ganz zu Unrecht) vorwerfen lassen, er verharmlose die Ausgrenzung, Demütigung und Vernichtung der Juden unter Hitler. Mit solchen Anspielungen muß man sehr vorsichtig sein. Das folgende Zitat ist kein Witz, keine Anspielung und auch nicht erfunden, sondern stammt aus der „Neuen Züricher Zeitung“:

„Geht es nach GLP-Präsident Grossen, sollen ungeimpfte Mitarbeitende in Spitälern, Altersheimen und Kindertagesstätten künftig einen Sticker tragen müssen, der sie für jedermann als ungeimpft erkennbar macht.“

GLP heißt übrigens „Grün-liberale Partei“. Die möchte, so heißt es, „eine liberale Wirtschaftspolitik“ mit einer „nachhaltigen Umweltpolitik“ verbinden. Das Wort mit F spare ich mir heute.

„Damals, so fanden wir, war die Technik ein zugemessener Zoll an die Notwendigkeit, nicht die Straße zum erwählten Ziel der Menschheit – ein Mittel mit einem endlichen Grad der Angemessenheit an wohldefinierte naheliegende Zwecke. Heute, in der Form der modernen Technik, hat sich techne in einen unendlichen Vorwärtsdrang der Gattung verwandelt, in ihr bedeutsamstes Unternehmen, in dessen fortwährend sich selbst überbietendem Fortschreiten zu immer größeren Dingen man den Beruf des Menschen zu sehen versucht ist und dessen Erfolg maximaler Herrschaft über die Dinge und über den Menschen selbst als die Erfüllung seiner Bestimmung erscheint.“ (Hans Jonas: „Das Prinzip Verantwortung“, 1979)

Über all diesen Gedanken donnern die Hubschrauber, seit Monaten, Tag und (oft auch) Nacht. Wie Wespen schweben sie über einem Zielareal, schwingen bedrohlich mal hin, mal her, verlieren ihr Ziel aber nie aus den Augen. Das Volk, die Herde, die da unten im Englischen Garten so chaotisch herummäandriert wie Sommerwolken, wird minutiös und akribisch beobachtet und kontrolliert. Der kleinste Wirbel, der in anderen Zeiten Auslöser einer Revolte geworden sein könnte, wird von der künstlichen Intelligenz sofort identifiziert und kann dann von den polizeimilitärischen „Einsatzkräften vor Ort“ mit disziplinierender Gewaltausübung im Keim erstickt werden.

Der Erfinder von Oxycontin, Robert Kaiser, schrieb an Purdue-Boß Richard Sackler: „Wenn Oxycontin unkontrolliert verabreicht wird, ist es sehr wahrscheinlich, daß es irgendwann mißbraucht wird.“

Sackler antwortete: „Wie nachhaltig würde das unseren Umsatz steigern?“

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