Belästigungen 24/2020: München ist ein Chinaböller! (ein paar Bemerkungen zur Wuppdizität moderner Großstädte)

Wenn man herausfinden will, wie etwas geht und wie weit man mit etwas gehen kann, macht man am besten ein Experiment. Zum Beispiel läßt sich die Wuppdizität eines Gummirings relativ leicht überprüfen, indem man ihn an den Oberschenkel des Biergartennachbarn fitzen läßt, und wie lang man ihn ziehen kann, zeigt sich, wenn man ihn lang genug zieht.

Allerdings ist der Gummiring dann hin, aber zur praktischen Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse steht ja jederzeit ein neuer mit ungefähr gleichen Eigenschaften zur Verfügung.

Bei einer Stadt ist das ein bisserl anders. Wenn es die erst einmal zerreißt oder sie für ihre Bewohner nicht mehr bewohnbar ist, ist es zu spät. Sie dann einfach in den Abfalleimer zu schmeißen und eine neue aus der Packung zu ziehen, ist aus diversen logistischen Gründen keine Option. Und das Experiment ein wenig herunterzufahren, wie man etwa beim drohenden Überkochen des Nudelwassers die Gasflamme kleinerdreht – geht auch nicht so leicht, weil es erstens Menschen sind, mit denen man da herumexperimentiert, und zweitens so viele Regler im Spiel sind, daß niemand weiß, an welchem man drehen müßte und welche es überhaupt gibt.

Das kann Jahrhunderte dauern und ziemlich üble Katastrophen, Nöte und Tragödien mit sich bringen. Die alten Römer können davon ein Lied singen, auch Babylon war lange Zeit die größte Stadt der Welt und Ur wohl eine der ersten; alle drei schlummern seit dem recht plötzlichen Überschreiten der urbanen Wuppdizität bis heute. In tausenden modernen Geisterstädten, verödeten Quartieren, aufgelassenen Olympiageländen und infolge geplatzter Blasen leerstehenden Bauruinen sieht es anders, aber nicht besser aus.

In Lexika steht dann gerne, solche Orte hätten „an Bedeutung verloren“, aber wie das genau hergegangen ist, weiß man nicht. Eventuell kann man es sich jedoch ausmalen, wenn man sich überlegt, was aus einer typischen Trabanten-, Vor- oder Innenstadt wird, wenn es kein Erdöl mehr für die Autofahrerei gibt und die Nahrungsausgabestellen nicht mehr beliefert werden können. Unter Umständen bricht dann wegen fortgesetztem Bauwahn noch die Versorgung mit Trinkwasser und Frischluft zusammen; Kies, Sand und Stahl zum Ausbessern der Betongebirge gibt es auch nicht mehr – und schon ist ziemlich schnell finito.

In München denkt man über solche Probleme nicht gerne nach. Da betoniert man lieber die letzten Frischluftschneisen und Grünstreifen sowie die gesamte Umgebung von nutzlosen Idyllen, Biotopen und Brachlandschaften mit Gewerbegebieten zu, damit mehr Leute kommen und arbeiten und Profit und Steuern auf Milliardenkonten und ins Stadtsäckel schwemmen. Weil diese Leute dann auch wohnen müssen, betoniert und verdichtet man weiter. Dann sind die Straßen mit immer mehr immer fetteren Panzern verstopft, in die U-Bahnen können sich zu Stoßzeiten nur noch trainierte Einzelkampfboliden quetschen, also baut man eben mehr und breitere Straßen und Tunnels und längere U-Bahnen und in die allerletzten Nischen noch mehr und noch höhere Häuser.

Vor jeder Postfiliale, an jeder Supermarktkasse bilden sich längst nicht mehr nur in der Weihnachtszeit Schlangen wie dazumal in der gesamten DDR, der Wegwerfmüll weht dünen- und lawinenweise durch die Schluchten, und weil es eine Isar, einen Englischen Garten und einen Chinesischen Turm (ebenso wie alle weiteren Großbiergärten) halt nur einmal (noch) gibt, wimmelt es dort – soweit es die neuen Verhaltensmaßregeln zulassen – wie im Ameisenhaufen und schluckt man das im Akkord ausgeschenkte Bier notfalls im Stehen.

Stören tut der ganze Wahnsinn offensichtlich niemanden. Nach wie vor weckt die bloße Erwähnung des Namens „München!“ weltweit reklamegenerierte Sehnsüchte und Idealbilder. Die Propagandamedien des Wachstumswahns tun das ihre, sie zu schüren, indem sie wie besessen Vokabeln wie „lebenswert!“ in die Welt schwallen, den unerreichten Freizeitwert und Genußfaktor des Betonkonglomerats anpreisen wie der Leistungszüchter seine Rekordsau und „Symposien“ veranstalten, in deren Rahmen Immobilienmilliardäre und Konzernführer verhandeln, wie man die Attraktivität der Ware „Weltstadt mit Herz“ und deren Preis noch weiter ins Absurde hinaufsprengen kann.

Lustig (oder sagen wir: galgenhumorig bedeutsam) ist dabei, daß München als solches seit Jahrzehnten niemand mehr gesehen hat, weil es das, was München angeblich sein soll und auf populären Illustrationen ist, gar nicht gibt. Als jahrzehntelanger Bewohner kann ich mich zum Beispiel zumindest ungefähr erinnern, wie der Sendlinger-Tor-Platz „eigentlich“ ausschaut. Wer erst sein halbes oder vierteltes Leben hier haust oder gar nur den üblichen modernen Karriereschritt absolviert, bevor es weitergeht nach Singapur, New York oder Düsseldorf, der weiß das nicht. Der hat auch den Isartor- und den Orleansplatz, den Elisabeth- und Viktualienmarkt, die Theresienstraße, das Siegestor noch nie gesehen, der kennt keinen Haupt- oder Ost- oder Moosacher oder Giesinger oder sonstigen Bahnhofsplatz, die Altstadt sowieso nicht, ganz zu schweigen von einem Panoramablick vom Schuttberg, der nicht in sämtlichen Richtungen zugestellt wäre mit dutzenden oder hunderten Kränen, die im modernen Stadtbild die Rolle übernommen haben, die früher die (heute meistens eingerüsteten) Kirchtürme spielten, und sie leider ganz und gar dilettantisch nachäffen. Schweigen wollen wir von den erwähnten Biergärten, die das Coronaregime in eine Abform jener Zuchtstationen verwandelt hat, in denen die Schweinswaren produziert werden, die man dort dann in chemisch optimierter Fraßform verabreicht.

Und diese ganze Aufzählung ist – wir wollen ja das Zeitfenster, das dem modernen Arbeitssklaven zum Lesen zugestanden wird, nicht zu arg überfordern – nur die Andeutung der Spitze des Eisbergs. Der wird weiter anschwellen, weil er das muß. Wo eine tobende, lärmende, giftende, staubende Baustelle verschwindet, schießen zwei bis vier neue aus oder in den Boden, wird Beton gerührt, Asphalt gekocht, mit Preßluft und monströsem Großgerät die Erdkruste aufgeschmettert – weil es ja weitergehen muß und ein Still- oder Zustand niemals geduldet werden darf.

Wie lange das gehen kann, bis es schnalzt, hat in einer modernen Stadt noch niemand ausprobiert. Keine Stadt in Deutschland ist derart verdichtet und mit Beton und Asphalt versiegelt wie München, kein Stadtteil so überbevölkert wie Schwabing, in keiner Stadt der ganzen Welt schwillt eine dermaßene „Immobilienblase“, und keine bekannte Stadt gibt sich solche Mühe, noch schneller in den Abgrund der Unbewohnbarkeit zu rutschen.

Wie das dann hergeht und wann es kommt – wie gesagt, man weiß es nicht. Ob zuerst die Luft ausgeht, das Öl, der Kies, der Sand, das Wasser, das Bier, die Nahrung, ob die Mechanismen von Überwachung, Kontrolle und Disziplinierung vor der Infrastruktur zusammenbrechen, auf welche Weise sich die eskalierende Mixtur aus Streß, Aggression, Hektik, Lärm, Gestank, Hitze, Gewalt und Enge entlädt, ob es dann, wenn es losgeht, schnell geht oder sich mit allen möglichen verzweifelt gedrehten „Stellschrauben“, „Lockdowns“ und Propagandakampagnen so verzögern läßt, daß es nicht gleich richtig scheppert, kann kein Mensch sagen.

Aber daß es passieren wird und vielleicht schon passiert – das wissen wir alle. Oder läßt es sich verhindern? Ein leises Ja: Man könnte einen Chinaböller ja auch in letzter Zehntelsekunde entschärfen, indem man die bereits im Sprengkörper verschwundene glimmende Zündschnur mit der Zunge und ein bißchen Spucke löscht.

Das muß man sich allerdings erst mal trauen …

Die Kolumne „Belästigungen“ erschien bis April 2020 alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Derzeit kann das Heft aufgrund der von Bundesregierung und bayerischer Staatsregierung verfügten „Maßnahmen“ nicht erscheinen, weil die meisten Veranstaltungen, die darin angekündigt werden könnten, verboten sind. Daher gibt es die Kolumne bis auf weiteres nur hier (und auf der In-München-Seite).

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