Belästigungen 16/2020: Die Ursache der Wirkung der Ursache – oder: Warum man alles versteht, wenn man nichts versteht

Sobald der Mensch zu denken anfängt, irrt er sich. Einer der am weitesten verbreiteten Irrtümer betrifft das Konzept von Ursache und Wirkung. Weil das so simpel erscheint.

Wenn zum Beispiel ein durch die „Corona-Maßnahmen“ im Elend gelandeter Künstler dem bayerischen Ministerpräsidenten eine Watschn verabreicht und sich daraufhin auf der Wange des Herrn Söder ein handtellergroßer Schwellfleck bildet, scheint die Sache klar: Ursache Ohrfeige, Wirkung rote Backe.

Aber war nun die regierungsamtlich angeordnete Verelendung des Künstlers die Ursache der Watschn? Oder mag der Künstler den Herrn Söder aufgrund anderer oder früherer Erfahrungen einfach sowieso nicht? Oder hatte er sich zuvor mit jemand anderem gestritten und deswegen noch einen Restgrant, der sich entladen mußte? Oder ist er ausgerutscht und beim Versuch, sich abzufangen, mit der Hand zufällig an der Söderschen Backe vorbeigekommen? Hatte der Ministerpräsident vielleicht eine bislang unbemerkte Zahnwurzelentzündung, die sich auch ohne Backpfeife im exakt selben Moment durch plötzliche schmerzhafte Schwellung bemerkbar gemacht hätte? Man weiß es nicht, auch wenn man sich einbildet, es zu begreifen.

Oder nehmen wir mal wieder den berühmten Virus, der anscheinend im Frühjahr 2020 in unseren Breiten herumflorierte (falls ein Virus so etwas tut: Manche Leute meinen, ein Virus lebe gar nicht, während andere meinen, leben tue grundsätzlich auch ein Isarkiesel, nur eben anders als wir): Die Infektion mit diesem Virus ging offenbar in einigen Fällen mit erkältungstypischen Symptomen (Husten, Fieber) einher. Also schlußfolgert der modern denkende Mensch: Ursache Virus, Wirkung Husten.

So einfach ist die Sache aber nicht. Nämlich waren die meisten, die in diesem Frühjahr einen Husten hatten, wahrscheinlich gar nicht mit dem Virus infiziert. Andererseits zeigten andere Infizierte ganz andere Symptome: Schnupfen, Durchfall, Lungenentzündung, Schlaganfall, Atemnot, Depression, Herzinfarkt, Thrombose, Kopfweh, Bauchweh, Hirnschaden und so weiter. Die meisten Infizierten wiederum spürten überhaupt kein Symptom. (Was erst mal nicht viel heißen muß: Mir sind Fälle bekannt, wo Menschen solche Mengen Bier und andere Genußmittel zu sich genommen haben, daß sie anderntags vor lauter Kater ein leichtes Kratzen im Hals gar nicht mehr bemerken konnten.) Und die meisten „positiv Getesteten“ waren wohl nicht einmal infiziert …

Jedenfalls: ist auch beim Virus die Abfolge von Ursache und Wirkung alles andere als klar. Könnte es sein, daß die Halsentzündung die Ursache und die Virusinfektion eine Wirkung davon ist (weil das geschwächte Immunsystem das fiese Zwergwesen nicht mehr wirksam niederringen kann)? Oder daß die Schwäche des Immunsystems die Ursache der Infektion ist, die sich aufgrund unterschiedlich gelagerter Schwäche unterschiedlich auswirkt? Oder daß beides – wie man aus der überwiegenden Symptomlosigkeit schließen könnte – überhaupt nichts miteinander zu tun hat, sondern das Zusammentreffen von Halsweh und Infektion reiner Zufall ist (ungefähr so wie bei gleichzeitigen Schwankungen der Storchpopulation und der Zahl menschlicher Geburten)?

Der Zufall ist in diesem Zusammenhang ein ganz besonders schlimmer Bursche: Wenn ich einen Stein in eine Fensterscheibe schmeiße und die Scheibe zu Bruch geht, gibt es offenbar Ursache und Wirkung. Was aber, wenn Sekundenbruchteile vor dem Auftreffen des Steins aufs Glas eine Amsel daherfliegt, den Stein ungewollt abfängt, sich dabei eine Rippe prellt, darüber so sauer wird, daß sie meinen zufällig vorbeikommenden Nachbarn beschimpft, den das Gekeife so erregt, daß er sein Schlüsselbund nach dem Tier wirft, es verfehlt, woraufhin das metallene Geschoß in der Fensterscheibe landet, die in Scherben fällt?

Da kann einer behaupten: Er hat genau gesehen, wie ich den Stein geworfen habe und die Scheibe zu Bruch ging! Wieso aber liegt im Zimmer ein Schlüsselbund und kein Stein? Wieso humpelt da eine schimpfende Amsel mit geprellter Rippe herum? Wieso steht der Nachbar ausgesperrt vor der Haustür?

Und wenn ein begabter Polizist oder Detektiv oder Logiker den Fall so weit aufdröselt, wie wir ihn bisher kennen, stellen sich sofort neue Fragen: Warum habe ich den Stein geschmissen? Wie kam die Amsel auf die Idee, genau in dem Moment daherzufliegen? Warum ist ein Stein überhaupt schwer und eine Glasscheibe zerbrechlich? Habe ich vielleicht zuvor gemeinsam mit der Amsel einen fiesen Plan geschmiedet, um den Nachbarn blöd dastehen zu lassen? Wäre die Fensterscheibe ohne Schlüsselbund überhaupt zersprungen? Was ist ein Stein? Was denkt ein Polizist? Besteht nicht die ganze Welt aus Atomen, die wiederum größtenteils aus nichts bestehen? Besteht mein Bewußtsein, das die Idee hatte, den Stein zu schmeißen, nicht auch aus Atomen?

Und gibt es da nicht noch eine Chaostheorie, der zufolge es überhaupt keinen Zufall gibt, sondern alles mit allem zusammenhängt und alles alles beeinflußt, was sich ohne weiteres zeigen ließe, wenn man nur immer kleinteiligere Abfolgen von Ursache und Wirkung verfolgte?

Die Forschung ist ganz offensichtlich ein Raum ohne Ende im kleinen wie im großen. Aber kann es in einem endlichen Universum einen unendlichen Raum geben? Man wird verrückt, wenn man lange genug denkt. Tatsache ist: Die Scheibe ist kaputt, die Amsel geprellt, Ursache und Wirkung hingegen eine Frage der Deutung und des Auseinanderklamüserns.

Was aber ist, wenn sich zum Beispiel jemand verliebt? Ganz einfach, sagt der Ursache-Wirkung-Gläubige: Da spielen sich im Gehirn aufgrund bestimmter Reize bestimmte Prozesse ab, die zu neuen Prozessen führen, die im Bett enden. Oder in Unglück, Trübsal und Einsamkeit. Alles haarklein nachvollziehbar: Chemie, Physik, Mathematik, fertig ist die Kiste.

Hm. Und was ist mit der Frage nach dem Ursprung der Welt, also des gesamten Universums? Auch hier läßt sich vieles als Abfolge von Ursache und Wirkung interpretieren, aber irgendwo oder -wann ist damit Schluß, weil es bei einem solchen Modell keinen Ursprung geben kann, der ohne Ursache auskommt, die dann wiederum noch ursprünglicher sein und aber wiederum eine Ursache gehabt haben müßte. Selbst der Urknall müßte also einen Grund gehabt haben, der vor dem Urknall da war. Und was war der Anlaß für den Grund?

Weil Ursache und Wirkung normalerweise zeitlich aufeinanderfolgen, bietet sich ein Zaubertrick als Lösung an: Man definiert einfach die Zeit aus der Erklärung heraus und behauptet, vor dem Ursprung habe es eine Zeit nicht gegeben, die sei durch den Ursprung erst entstanden. Ursache und Wirkung waren also gewissermaßen „ewig“ einfach „da“ – allerdings nicht wirklich da, weil der Raum und damit die Möglichkeit eines Orts ja auch erst durch den Ursprung entstand.

Daß man mit diesem zunächst brillant erscheinenden Trick in Wirklichkeit nicht weiterkommt, zeigt sich, wenn ein Neugieriger fragt, wodurch der Ursprung von Zeit und Raum denn ausgelöst worden sei. Da sagt der Wissenschaftler notfalls , das sei durch etwas geschehen, was man mit menschlichen Begriffen nicht begreifen könne.

Das hilft dem Ursache-Wirkung-Fanatiker nichts: Der steht nun da und begreift aufgrund der Unbegreiflichkeit der Ur-Ursache auch alles folgende nicht mehr. Es hilft ihm nicht einmal, die Bibel aufzuschlagen, weil da im Grunde genau das gleiche drinsteht – nur daß das unbegreifliche Etwas eben Gott heißt. Oder nachträglich so genannt wurde, weil etwas Unbegreifliches im Grunde ja auch keinen Namen haben kann, durch den es nicht mehr ganz so unbegreiflich würde (und wer hätte ihm den Namen denn geben sollen?).

Das gleiche passiert, wenn wir nach dem Leben fragen und wissen wollen, was und warum das eigentlich ist. Der Wissenschaftler meint, die ganze Welt bestehe genau betrachtet nur aus toten Teilchen und deren naturgesetzmäßiger Interaktion. Um das zu belegen, zerteilt er alles, was es gibt, in immer kleinere Phänomene und Vorgänge – und siehe da: Schon stößt er wieder auf seine geliebte Abfolge von Ursache und Wirkung. Dem Geheimnis des Lebens allerdings kommt er so zwar immer näher, aber erkennen kann er es nicht: Der Versuch endet mit der Behauptung, letztlich sei auch das Leben etwas Totes, weil es aus vielen winzigen Ursache-Wirkung-Abfolgen von Interaktionen toter Teilchen (Atome) besteht. Und das ist ein Widerspruch, den es rein wissenschaftlich nicht geben darf.

Man könnte lebensweisheitlich behaupten, das Ganze sei eben mehr als die Summe seiner Teile, aber auch das wäre grob unwissenschaftlich. Bewußtsein, Seele, Geist, Sinn, Wille, Freiheit etc. helfen nicht weiter, weil auch sie aus toten Teilchen bestehen müßten, die durch nichts lebendig werden können. Also was tun? Man rettet sich in die Zukunft, mit dem gleichen Argument wie beim Ursprung: Das Leben entstehe prinzipiell aus der Interaktion toter Teilchen, die irgendwann irgendwie zu Leben werde, durch eine Stufe der Komplexität, die man momentan noch nicht begreifen könne, die aber sicherlich irgendwann begriffen werde.

Und wieder steht in der Bibel das gleiche: Da entsteht das (menschliche) Leben aus toten Lehmteilchen, die durch etwas unbegreiflich Komplexes belebt werden, und wieder nennt man dieses unbegreiflich Komplexe Gott.

Ob man die Welt mit Hilfe der Religion oder der Wissenschaft erklären möchte, ist also letztlich egal. Wissenschaft ist Religion, und Religion ist Wissenschaft. Und beides sind nicht mehr als Mythen, die uns vor der Verzweiflung bewahren sollen, die uns befällt, wenn und weil wir nichts verstehen und nichts einen Sinn zu haben scheint.

Wir sehen: daß Ursache und Wirkung im kleinen manches für den Menschen begreifbar machen können, im großen und ganzen aber ein Hirngespinst sind. Und damit könnten wir uns eigentlich alle möglichen unerfreulichen Diskussionen ebenso sparen wie das ganze Geschrei um sogenannte „Verschwörungstheorien“. Wir könnten sagen: Was geschieht, geschieht deswegen, weil es geschieht. Und dann fragen wir lieber mal, was eigentlich geschieht und wie wir damit umgehen können.

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