Belästigungen 17/2020: Dicht, dichter, am dichtesten (vom Unterschied zwischen Ameise und Mensch)

Was Lebewesen so tun, ist im allgemeinen recht gut bekannt: Sie hängen ab, essen (meistens sich gegenseitig, ohne Arg) oder saugen Nährstoffe aus dem Boden, trinken, haben Sex, albern rum und ärgern sich (oft gegenseitig), sind schön und fühlen sich gut, und dann hängen sie wieder rum und schauen, was so los ist. Kurz gesagt: wenn sie nicht gerade gegessen werden, freuen sie sich ihres Lebens.

Ist ja auch kein Wunder, schließlich sind sie vom Glück auf aberwitzige Weise begünstigt: Sie sind geboren, geschlüpft, gekeimt und aufgewachsen, im Gegensatz zu Fantastilliarden anderen Ei- und Samenzellen – geschätzt 99,999999 Prozent davon kommen nie zur Welt. Da darf man sich schon mal freuen, zufrieden grunzen und gemütlich dösen.

Ausnahme: die Ameise. Die schuftet ihr ganzes Leben lang, um die Fettmaden in ihrem Haufen zu mästen, damit die dafür sorgen, daß es nächstes Jahr noch mehr Ameisen gibt. Dann stirbt die Einzelameise, ohne je etwas von ihrem Leben gehabt zu haben. Vielleicht hat sie gar nicht bemerkt, daß sie lebt. Sicher hat sie nie daran gedacht, was für ein Glück das ist. Oder wäre. Manche Leute finden das faszinierend, ich finde es ziemlich gruselig.

Manche Leute sind aber auch Menschen, und bei den Menschen ist es genauso: der größte Teil von denen schuftet ebenfalls sein ganzes Leben lang, um eine winzige Klasse von Fettmaden zu mästen, die zum Teil noch nicht mal Menschen sind, sondern nur abstrakte Konzerne, Stiftungen, Fonds und Konten.

Warum das so ist, weiß man nicht genau. Man vermutet, daß Ameise und Mensch aufgrund eines genetischen Defekts darauf programmiert sind, ausschließlich dafür zu sorgen, daß sie immer mehr werden, bis sie sich durch Vernichtung ihrer eigenen Lebensgrundlagen selbst ausrotten. Was wiederum keinen Sinn hat und zu nichts gut ist (außer daß die übriggebliebenen anderen Lebewesen dann wieder ihre Ruhe haben), daher: genetischer Defekt.

Hinkriegen tun sie die Selbstvernichtung durch stetiges Wachstum, stetige Beschleunigung und stetige Verdichtung. Alles wird immer mehr, immer schneller und immer dichter, bis irgendwann alles so gigantisch groß, ununterscheidbar gleichförmig und rasend ist, daß es niemand mehr aushält. Wo gerade noch die Autos forderten, die Gehsteige zu schmälern, weil die SUVs nicht mehr durchkommen, werden dann die Fußgänger mit Stangen und Brettern auf die SUVs und ihre Mitfußgänger eindreschen, weil überhaupt nichts mehr durchkommt.

Die Frage ist: Wieso passiert das nicht in Ameisenhaufen, die schon jetzt so verdichtet sind wie München (wenn es nach den Wahnsinnigen in Referaten und Spekulantenbüros geht) erst 2040?

Es gibt einen Unterschied – drei Kleinigkeiten, die Ameisen (die es in der Einzahl – streng biologisch betrachtet – im Grunde gar nicht gibt) für eine Existenz in München-2040-ähnlicher Verdichtung qualifizieren: Sie haben kein Herz, kein Hirn und keine Nerven. Manche Menschen haben selbst unter heutigen Bedingungen eines davon, seltene Exemplare sogar alle drei. Allerdings versagen bei denen die Nerven manchmal. Zum Beispiel wenn sie in einer „Shopping-Nacht“ (an der sie selbst kein Interesse haben, weil so was nur ohne Herz und Hirn geht) von ihresgleichen gerempelt und geschubst werden und davon plötzlich aufwachen und den infernalischen Lärm wahrnehmen, den so was macht. Und die Enge, das Gewusel und Gewimmel, die Verzweiflung und Panik in den Blicken der Käufer und Verkäufer. Und es gibt ja auch noch die anderen, die ohne Herz, Hirn und Nerven. Die sind aber auch nicht die Ameisen, die die Stadtverwaltung gerne hätte. Die wollen nicht nur arbeiten und pennen, sondern saufen, kotzen, shoppen, joggen und was so Roboter halt müssen.

Daß es dann nicht knallt, vulkanisch und viral und in einem Crescendo des allgemeinen Amoklaufs, sondern daß da weiterhin geregelt konsumiert werden kann, dafür sorgen Überwachung- und Disziplinierungsbemühungen sowie letztlich vorläufig die Polizei. In extremer Verdichtung des Gewimmels und Gewusels wird deren Auftreten aber eher kontraproduktiv, weil es dann noch enger wird und noch mehr und noch panischer wimmelt und wuselt. Dann knallt es endlich doch.

Ameisen, immerhin, erkennen Bewohner des eigenen Haufens am Geruch. Der hält sie davon ab, sich gegenseitig zu töten. Der Mensch in der München-2040-Wimmelstadt wird sich nicht am Geruch erkennen, weil der Dampfseich, den er dann „Luft“ nennen wird, von nichts im Universum überstunken werden kann, mit oder ohne „Alltagsmaske“ (was für ein herrliches Wort übrigens für Faschingsfanatiker und Sozialkritiker!). Besser so, weil er sich sonst noch viel schneller gegenseitig töten würde als er das sowieso tun wird, weil jeder andere nicht mehr ist als ein Konkurrent um Wohnraum, Arbeit und die letzte Pizza im Supermarkt-Tiefkühlschrank. Oder täte er das am Ende doch nicht? Oder passiert ganz was anderes, vielleicht sogar tatsächlich der reibungslose Übergang zum digital gesteuerten Ameisenhaufen? Man weiß es nicht; es ist ein Experiment.

Es gab so ein Experiment übrigens schon mal, in der „Walled City“ Kowloon in Hongkong. Noch heute starrt man fassungslos auf Filmdokumente dieses menschlichen Ameisenhaufens. Das hat sogar ein paar Jahre lang leidlich funktioniert. Allerdings: waren die Regeln völlig andere als die, die in bayrischen Gesetzen festgeschrieben sind, meistens sogar das genaue Gegenteil; von irgendwelchen Menschenrechten ganz zu schweigen. Und: die Leute dort wollten nichts und träumten von nichts als ihrer puren Existenz, wie Mehlwürmer in einem Sack Mehl. „Sich selbst finden“ oder „verwirklichen“ oder auch nur shoppen oder ihre Ruhe wollten die nicht. Durften sie auch gar nicht wollen, abgesehen davon, daß sie gar nicht wußten, was so was ist.

Was in dem Ameisenhaufen, in den sich München per Verdichtung und verdichtete Ausdehnung verwandeln soll, passieren wird, ist eine spannende Frage, die niemand beantworten kann. Das muß auch niemand. Wenn es knallt, sind die Schuldigen längst weitergezogen oder gestorben oder verbringen ihren Lebensabend in den letzten unverdichteten Villengegenden. Und die übrigen, die die Wahnsinnsideen dieser Leute ausbaden müssen, die kennen es nicht anders. Vor allem nicht mehr nach dem Knall: Da kennt niemand mehr irgendwas.

(Ich täte diesen Gedankengang gerne mit einem versöhnlichen „Wir könnten/wir müßten/wir sollten“-Appell beenden – aber leider fällt mir keiner ein, der angesichts der unaufhaltsam heranflutenden Realität nicht so naiv-doof-lächerlich klänge wie eine Wahlparole der SPD oder der „Grünen“.)

Die Kolumne „Belästigungen“ erschien bis April 2020 alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Derzeit kann das Heft nicht erscheinen, weil alle Veranstaltungen, die darin angekündigt werden könnten, aufgrund des infolge der „Coronapandemie“ geltenden Berufsverbots für Bühnenkünstler abgesagt wurden. Daher gibt es die Kolumne vorübergehend nur hier (und auf der In-München-Seite).

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