Belästigungen 9/2020: Die Epidemie der tödlichen Splitter (eine Märchentraumgeschichte)

Neulich hatte ich einen Traum. Meinem Sauerkirschbaum – den ich sehr schätze, weil Sauerkirschen neben Blutorangen und Bärlauch die vielleicht schönsten saisonalen Geschenke der Natur überhaupt sind – ging es nicht gut: Die Blüten vertrockneten, Äste starben ab, um den Stamm kreisten immer mehr interessierte Wildbienen (für die tote Baumstämme das gleiche bedeuten wie stadtrandständige Betonkasernen für das kapitalistische Arbeitsvieh, oder sagen wir: etwas ähnliches).

Besorgt saß ich neben dem Baum und zermarterte mir den Kopf: Was fehlte dem armen Delikatessenlieferanten? Hatte ich ihn in den vergangenen Jahren zu sehr ausgebeutet? Hätte ich ihm ein paar seiner sowieso wenigen Früchte lieber lassen sollen? Ach wo, beschwichtigte ich mich: Die wirft er ja irgendwann von selber ab, also wird er sie nicht so dringend brauchen, zumal aus jedem der Früchtchen theoretisch ein neuer Baum wachsen kann, der ihm irgendwann Licht, Luft und Wasser wegnimmt.

Mein Verdacht fiel auf das Moos um den Stamm herum: Hausten da böswillige Ungezieferlinge, die Wurzeln anbeißen oder mit ihren Ausscheidungen brave Bäume schleichend vergiften? Ich fing zu zupfen an, vorsichtig, um nicht versehentlich ein Blindschleichenlager aufzuscheuchen. Bald zupfte ich weniger vorsichtig, rupfte das Moos komplett weg und fand aber nur ein paar Wal- und Haselnüsse, Eicheln und Pfirsichkerne, die Eichkätzchen dort vergessen hatten.

Also kratzte, wühlte und scheuerte ich im Erdreich rum. Holte eine Handschaufel und grub regelrecht, und siehe da: Beim Seiern des ausgehobenen Schüttguts fand ich neben mancherlei Steinchen eine kleine, bedrohlich funkelnde Glasscherbe!

Ein Garten, in dem scharfkantige Splitter ihr Unwesen treiben, kann nicht so gedeihen, wie er soll, sondern fällt früher oder später dem Verderb anheim. Wo die Scherbe herkam, ließ sich nicht ohne weiteres bestimmen, höchstens mutmaßen: Der Sauerkirschbaum steht ziemlich nah am Zaun zum Nachbargarten – wer weiß, ob nicht ein Igel, Vogel oder sonst ein vagabundierendes Geschwerl das tödliche Teilchen eingeschleppt hatte? Vielleicht waren es sogar die Nachbarn selbst, aus Unmut, weil meine Him-, Brom- und Heidelbeeren traditionell besser schmecken als ihre und sie Aprikosen, Pfirsiche, Maronen, Morcheln, Spargel, Weintrauben (und sowieso Sauerkirschen) im Laden kaufen müssen?

Wie auch immer! Vordringlich war, das Fortschreiten der Verderbnis so schnell wie möglich einzudämmen. Das entpuppte sich als aussichtsloser Wettlauf mit der Zeit: Am nächsten Tag buddelte ich unter zwei anderen, ebenfalls etwas schwächlich wirkenden Bäumen und fand auch dort die bösen Splitter. Der Schaden hatte sich also innerhalb von vierundzwanzig Stunden verdoppelt! Panisch grub ich weiter, schaufelte und seierte und hatte von Anfang an keine Chance: Je mehr ich suchte, desto mehr breiteten sich die Scherben aus.

Gott sei Dank zeigten nach einigen Tagen die meisten neu freigescharrten Bäume keine Symptome mehr, zumindest keine schlimmen. Ein richtiger Trost war das aber nicht – es konnte sich ja jederzeit ändern. Folglich mußte die ungehinderte weitere Einschleppung von Glasscherben unterbunden werden! Ich verbarrikadierte sämtliche Zäune, Türl und Tore mit Fliegengitter, Stacheldraht und Vogelnetzen, hängte zur Abschreckung ausrangierte CDs ins Geäst. Zwecklos: Die Zahl der ausgegrabenen Scherben stieg weiterhin Tag für Tag.

Zwar zeigte die Sauerkirsche, nachdem ich ihre Wurzeln mit eimerweise Wasser geflutet und durchgespült hatte, mittlerweile Anzeichen von Besserung, das konnte aber Zufall sein. Zur Steigerung der Sicherheit kaufte ich palettenweise Klopapier, mit dem ich sämtliche Gewächse so hermetisch umwickelte, daß zumindest ein eventueller Anflug von Scherben aus dem noch nicht abgeriegelten Luftraum unwahrscheinlich war. Zudem tränkte ich das neue Schutzkleid der Pflanzen mit sämtlichen verfügbaren Insekti-, Fungi-, Herbi- und sonstigen -ziden, um Nebenerkrankungen im Keim zu ersticken.

Es half alles nichts: Weiterhin enthielt fast jede aufgeworfene Schaufelladung Erde durchschnittlich ein Splitterchen, was sich zu grauenhaft eskalierenden Summen kumulierte. Inzwischen halfen Freunde beim Graben, wodurch die Zahl der Scherben geradezu exponentiell anstieg.

Irgendwann aber zeigten die bislang getroffenen Maßnahmen Wirkung: Die Ausbreitung der teuflischen Glasteile verlangsamte sich, je tiefer wir nun – da die gesamte Oberfläche des Areals bereits abgetragen und durchwühlt war – ins Erdreich vordrangen. Vorwitzige Nachbarn wollten uns weismachen, die allgemeine Wuchsschwäche gehe gar nicht auf die Scherben zurück, sondern auf die Dürre, die infolge der von Autoverkehr und Industrie verursachten Erderwärmung seit acht Wochen herrsche. Wütend verscheuchten wir sie vom Zaun – wer auf derartige Verschwörungstheorien hereinfällt, dem sinken früher oder später Moral und Kampfesmut! Anstatt in unseren Bemühungen nachzulassen – was nach übereinstimmender Einschätzung aller Beteiligten nach all den Mühen und Entbehrungen inkonsequent und fatal gewesen wäre –, beschlossen wir, dem garstigen Gewese ein für allemal den Garaus zu machen.

Wir zogen also alle Gewächse aus dem gefährlichen Boden und stapelten sie Wurzel auf Wurzel im luftdicht verriegelten Schuppen. Der Erfolg blieb zunächst aus: Auch zuvor scheinbar gesunde Bäumchen ließen nun die Blätter fallen, hier und da bröselte die Rinde, und ans Blühen dachte niemand mehr.

Dieses perfide Manöver des Feindes konnte unseren Eifer indes nicht dämpfen, sondern spornte uns zusätzlich an: „Nur nicht weich werden, wir müssen da gemeinsam durch!“ schworen wir, als wieder einmal die Dämmerung über das Grundstück fiel, das nun einer Mondlandschaft glich.

Da begann es plötzlich zu tröpfeln, und schon brach ein Wolkenbruch daher, daß es nur so schüttete, strömte und goß. Schockiert kauerten wir in den Fluten, dachten aber selbst jetzt nicht ans Aufgeben, sondern pickten weiter Scherbe um Scherbe auf, bis uns der Schlaf der Erschöpfung übermannte.

Wie staunten wir am nächsten Morgen, als um uns herum alles ergrünt war – von Zaun zu Zaun, von Pfosten zu Pfosten, vom einen Ende des Areals bis zu allen anderen erstreckte sich ein unüberschaubares Meer von Brennesseln und Löwenzahn, der sogar schon einige sonnengelb leuchtende Blüten trieb. Ich traute meinen Augen nicht, blätterte verzweifelt in den Aufzeichnungen, Regeln und Maximen der letzten Wochen, um einen Hinweis zu finden, wie diese überraschende Wendung der Lage zu deuten war.

Am Zaun hatte sich die gesamte Nachbarschaft versammelt, betrachtete das Malheur zunächst neugierig und lachte dann los, laut und immer lauter, bis ich nichts mehr hörte als Gelächter, Gelächter, Gelächter, das mich endlich aus dem Schlaf riß.

Was für ein seltsamer Traum, dachte ich beim Kaffeekochen, schaute ins Internet und fiel aus allen Wolken, als ich feststellte, daß die von Markus Söder vor vielen Wochen versprochene und längst vergessene Corona-Soforthilfe doch noch auf meinem Konto eingetroffen war.

Und dann wachte ich auf, diesmal aber wirklich.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint normalerweise alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Derzeit kann das Heft nicht erscheinen, weil alle Veranstaltungen, die darin angekündigt werden könnten, aufgrund der Coronapanik abgesagt wurden. Daher erscheint die Kolumne vorübergehend nur hier.

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