Wie lange kann man leben, wenn man nicht schläft? 264 Stunden, sagt Randy Gardner, der das 1965 ausprobiert hat und immer noch lebt.
B. kann in den Wochen vor Weihnachten nie schlafen, sagt sie. Es treibt sie zu vieles um, vom Zustand ihrer Familie bis zum Zustand der Welt: Da erkennt sie Dinge, die andere nicht erkennen, während die Dinge, die andere erkennen, ihr unverständlich bleiben. Das dreht sich in ihrem Kopf, von dem sie vor allem in den frühesten Morgenstunden bisweilen befürchtet, er sei die Kugelachse des Universums.
Zu solchen Zeiten besucht B. gerne fremde Küchen, in denen sie dann sozusagen symbolisch den Tisch freiräumt und raucht, bis der Aschenbecher einem jüngst erloschenen Vulkan in Modelleisenbahnausgabe ähnelt. Ihr anheimelnd melancholischer, phasenweise zornig schwellender, dann wieder ästelnd mäandrierender Redefluß erscheint dem Zuhörer manchmal wie Musik, vor allem wenn die Dezembersonne erste milchig verwaschene Strahlen ins dunstige Gespinst vor dem bald strahlenden Blau wirft und die Stöckelschuhe der Nachbarin einen indiskreten, vom Ziegelkern der Küchenwand mit Baßfrequenzen unterfütterten Beat stöckeln.
Dann erinnert mich B. auch mal an Eminem. Sie spricht von der Wiederkehr des immer gleichen, periodisch wie die Gedanken und Anwallungen der Vorweihnachtszeit, wie die Muster von Nähe und Flucht in verflossenen Beziehungsversuchen, und wenn ihr das zu banal wird, wagt sie einen linden Witz: „Ich kann auf dem Wasser gehen“, sagt sie, „aber ich bin nicht Jesus, nur eine unbegabte Schlittschuhläuferin.“
Das sagt Eminem auch, der auf seinem neunten Album noch so einiges sagt, was man erst beim dritten, fünften, neunten Hören akustisch versteht, weil er noch schneller redet als B. (die nun versonnen dem Ausdruckstanz ihres Zigarettenrauchs folgt) und man immer wieder beim zweiten Reim die Bremse ziehen und denken muß, wodurch der Rest der Strophe davonrauscht und verschwindet wie ein verpaßter Zug auf einem winterlichen Kleinbahnhof: „I walk on water but I ain’t no Jesus / I walk on water but only if it freezes.“ Aber nein, er sagt es gar nicht, sondern läßt es Beyoncé sagen, einen von vielen Gästen (Phresher, Ed Sheeran, Pink, X Ambassadors … you name ‚em) auf der Platte, die also ein „Revival“ sein soll, das gefühlt sechzehnte, gemeint erste, was ein so naheliegender Anlaß für journalistische Häme ist, daß man ihn besser nicht unbesehen aufgreift: „Das Wort bedeutet nicht Rückkehr oder Comeback“, sagt B., „sondern Erweckung oder Wiederbelebung. Was man erweckt, kehrt nicht zurück, es war immer da.“
Klar, da steckt ein System drin: „Encore“ (Zugabe), „Relapse“ (Rückfall), „Recovery“ (Erholung), dazwischen per Compilation ein „Curtain Call“ (Schlußverbeugung) und ein „Re-Up“ (Verlängerung) … seit vierzehn Jahren eine einzige Wiederkehr von etwas, was scheinbar nie weg war oder immer schon ist. Dazu zählt auch das Gemecker der Kritiker, auch das Anknüpfen: Rick Rubin und Dr. Dre sind als Produzenten dabei, das Haar ist wieder blond(iert), und mit „Like Home“ (mit Alicia Keys) mutiert Eminem zu einer Art spätem Robbie Williams des Oldschool-Rap. Wie’s weitergeht, ist absehbar und trotzdem neu, das macht übrigens auch den Reiz spätnächtlicher (Vor)weihnachtserzählungen aus.
B. hat alle denkbaren Mittel probiert, ihre Schlaflosigkeit zu vertreiben oder wenigstens zu dämpfen. Ganz daneben ging der Versuch mit der Medientherapie: Nach drei Tagen Fernsehen, Radio und Zeitung hatte sie das Gefühl, in einen Wahnkäfig gesperrt zu sein, in dem die ganze Welt eine flache Projektion ist, die nur aus Wirtschaft, Börse, Terror und Trump besteht. Nun, mit Eminem, hat sie einen Weg gefunden: Aus dem Dickicht der Worte führt nur eine Machete aus Worten; so hebt sich alles auf, und im Kopf entsteht ein Gleichgewicht aus Sinn und Stille, aus dem wir morgen nachmittag erwachen werden, in eine Gegenwart, in der jeder Zustand eine Wiederkehr und zugleich alles leer, neu und Licht ist.
Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.