Belästigungen 1/2018: Wer die Krone der Schöpfung und wer an allem Unheil schuld ist

Früher lernte man in der Schule, der Mensch sei die Krone der Schöpfung. Was vielleicht gar nicht so falsch ist, wenn man genauer drüber nachdenkt: Kronen sind (von Bäumen mal abgesehen) meist ziemlich protzige, nutzlose, unförmige, sauschwere und unbequeme Dinger, die man (also: die Schöpfung) kurz mal zum Repräsentieren aufsetzt, wenn’s unbedingt sein muß, und dann wieder wegräumt. Anfangen kann man sonst nichts damit, im Gegensatz zu Schuhen, Hosen, Hemden, Mützen, Pullovern, Jacken, Mänteln, Handschuhen, Brillen, Socken, Kopfhörern, T-Shirts, Unterhosen, Schals, Taschen und dem ganzen anderen Zeug, das man noch so tragen kann.

Wenn also ein vorwitziger Mensch einer Stubenfliege zu verstehen gibt, er sei übrigens die Krone, sie hingegen höchstens das Hühneraugenpflaster oder das Klopapier der Schöpfung, weshalb er Respekt und das Vorrecht verdiene, selbige Schöpfung in die Mülltonne zu hauen, wie und wann es ihm beliebe, dann sieht er das eventuell falsch. Sogar ein besonders eitler und eingebildeter Kaiser – sagen wir mal: Idi Amin oder Ludwig der Vierzehnte – hätte im Zweifelsfall mit Sicherheit lieber auf seine Krone verzichtet als auf das schmerzlindernde Pflaster. Für dreilagiges Klopapier hätte er wahrscheinlich sogar noch sein Szepter und sonstigen Klunkerklimbim hingegeben, und selbst wenn es bloß ums Schmücken gegangen wäre, hätte er sich garantiert lieber ein paar Schmetterlinge aufs Haupt gesetzt als einen beliebigen Menschen. Der Schöpfung wird es da nicht anders gehen: Auch die trägt mit hoher Wahrscheinlichkeit lieber Blumen und Pfauenaugen auf dem Schädel spazieren als, sagen wir mal, Christian Lindner oder Donald Trump.

Aber abgesehen davon: Daß je eine Krone auf die Idee gekommen wäre, sich den von ihr bekrönten Herrscher untertan zu machen, wie sich das der Mensch der Schöpfung gegenüber anmaßt, ist historisch nirgendwo belegt. Die Aufgabe einer Krone ist, wie gesagt, klumpig und klobig in Vitrinen herumzuliegen und einen fiktiven Wert zu repräsentieren, der eigentlich gar keiner ist, weil: Wenn die Nachfrage nach Kronen gegen null geht, werdet ihr feststellen, daß man Gold, Rubin und Smaragd nicht essen kann!

Und sowieso ist das mit dem Untertanmachen eine Wahnvorstellung. Seit Jahrzehntausenden ist der Mensch in Wirklichkeit macht- und willenloser Untertan zum Beispiel diverser Getreidepflanzen und wimmelnder Völker von Viren, die ihn drillen und dressieren, durch ihn florieren, sich verbreiten, die Welt erobern und noch nie daran gedacht haben, „demokratische Wahlen“ zu veranstalten. Und statt sich allmählich von der Gewaltherrschaft zu emanzipieren, hat sich der Mensch in den letzten Jahrzehnten auch noch dem Auto, der Maschine, dem Geldwachstum und dem Computer unterworfen und fungiert als deren devoter Sklave, kredenzt ihnen das einzige, was er an weltlichem Besitz tatsächlich hat (Lebenszeit), und fühlt sich, wenn er zwischendurch erschöpft aufs Lager sinkt, auch noch irgendwie „zufrieden“ und täte gerne noch mehr Sklavenarbeit ohne Gegenleistung verrichten. Zu behaupten, Autos, Geld und Smartphones seien „Mittel zum Zweck“, ist ungefähr so stichhaltig wie die Meinung eines Schwerstalkoholikers, er trinke nur hin und wieder ein Schnäpschen, weil das die Verdauung fördere.

Der Mensch, fassen wir zusammen, ist weder die Krone noch der Herrscher, sondern der leibeigene Lakai der Schöpfung (und zwar zum größten Teil seiner eigenen), und er hat im Laufe der Evolution ein solches Talent entwickelt, sich ohne jeden Widerspruch zu unterwerfen und ausbeuten zu lassen, daß er sein elendes Sklavendasein notfalls lieber mit Atombomben verteidigen würde als es aufzugeben.

Manchmal allerdings gerät der größtenteils perfekt ablaufende Prozeß, mit dem der Mensch auf lange Sicht seine Selbstauslöschung betreibt und die Übergabe der Welt an autonome Autos und Maschinen einleitet, ein bißchen ins Stocken. Da flammt plötzlich irgendwo ein Revolutiönchen oder ein Widerständchen gegen einen faschistischen Putsch auf, bricht eine Epidemie aus, tragen renitente Störenfriede Spruchtafeln durch ansonsten blitzsaubere Stadtmaschinen, mäkeln Miesmacher am Kapitalismus herum, brechen Börsenkurse ein, verweigert ein sturköpfiges Gallierdorf die Unterwerfung, geraten Banken in Schieflage, rumpelt ein stromlinienunförmiger Trottel in ein Weißes Haus hinein und bringt alles durcheinander, kommen verräterische Mails, Dokumente und Paradiespapiere „ans Tageslicht“ – lauter unerfreuliche Störungen. Die muß man irgendwie erklären, bevor das Menschenmaterial insgesamt unruhig wird, gefährliche Fragen stellt und zu zweifeln beginnt.

Lustigerweise greifen die Verwalter und Moderatoren des Prozesses dabei auf ein Erläuterungsmuster zurück, das ziemlich genau der Wahrheit entspricht: Der Mensch, betonen sie, sei nicht autonom, selbstbestimmt, Herr des eigenen Willens und der Schöpfung, sondern ein willenloser Sklave. Allerdings beherrschen ihn weder Autos, Maschinen, Smartphones noch Viren, Getreide, Suchtmittel und schon gar nicht das Kapital und die mächtigste Manipulations- und Verblödungsmaschinerie, die das Universum seit dem Urknall gesehen hat, sondern: russische Hacker!

Die nämlich haben Hillary Clinton sabotiert, Trump ins Amt gehievt, den Brexit herbeigeführt, in Banken und Börsen herumgewurstelt, Katalonien und Simbabwe aufmüpfig gemacht usw. usf., und wenn sich unsere Geheimdienste und Medien nicht unter Aufbietung ihrer gesamten Kräfte gegen den Sturm aus dem Osten stemmen täten, hätte der uns längst überschwemmt, und es wäre … was noch mal genau Schlimmes passiert? Nichts?

Nein, ganz und gar nicht nichts: Das Geld, das wir erarbeiten und an die Ein-Prozent-Klasse der Fettmutanten abtreten müssen, flösse dann möglicherweise nicht mehr auf transatlantische, sondern auf russische (und neuerdings chinesische) Privat- und Schwarzkonten. Was denen, die die Milliardäre dieser Welt mästen, selbstverständlich keinesfalls egal sein darf! Die müssen angesichts derartiger Bedrohungen „überlegen“, ob sie „dafür aufgestellt sind, um diese Bedrohungspotentiale auszugleichen und abschrecken zu können“! „Die Politik“ müsse unbedingt entscheiden, „ob die eigenen Wehr- und Rüstungsfähigkeiten ausreichen“!

Der Kerl, der derartigen Giftmüll in Mikrophone bellte, hieß übrigens weder Goebbels noch Hitler, sondern heißt immer noch Kahl und amtiert als (selbstverständlich nicht gewählter) „Präsident“ des „Bundesnachrichtendienstes“. Der Nachrichtendienst, der seinen Schwachsinnsschwall unredigiert und unkorrigiert (da darf auch der fiese Chinese „ganz neue Seiten“ aufziehen), dafür mit einer Zusatzportion Alarmismus in die Welt hinauspumpte, ist jeglicher Unterwanderung durch nichtrussophobe Quertreiber unverdächtig, wird von manchen für eine „seriöse“ Tageszeitung gehalten und verräumte den Quatsch deswegen auch nicht irgendwo zwischen Promigebrabbel, Horoskop und TV-Programm, sondern auf der Titelseite.

Weshalb, ist klar: Nachdem der hoffnungslos unterlegene Russe mittlerweile gesamteuropäisch in Steinwurfweite von NATO-Truppen umzingelt ist, die immer monströsere Vernichtungssimulationen („Manöver“) an seinen Grenzen veranstalten, und sich trotzdem immer noch nicht in die Knie zwingen lassen mag, muß demnächst mal wieder richtig geschossen werden.

Und da fällt uns auf, daß wir die wahre „Krone der Schöpfung“, der in der Tat die gesamte Welt auf Verderb statt Gedeih unterworfen ist, vergessen haben: die Waffe. Auch die ist eine Schöpfung des Menschen, aber wenn sie ihn demnächst von der Oberfläche des Planeten tilgt und damit nebenbei auch sämtliche Börsenkurse und Zeitungsabonnements endgültig löscht, wird er sich auf russische Hacker nicht mehr hinausreden können.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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