Viele Leute sind sehr besorgt. Das heißt: Bürger, in Deutschland; von anderswo weiß man das nicht so genau. Was ist zum Beispiel mit den Chinesen? Sorgen die sich auch? in solchem Maße gar, daß ein gut organisierter Flashmob der besorgten Chinesenbürger mit einem Hüpfer die Erde aus der Umlaufbahn schmeißen und zum Jupitersatelliten umwidmen könnte?
Und sind die überhaupt Bürger, diese besorgten Chinesen, wo ihr Land doch offizieller Sprachregelung zufolge als „kommunistisch“ gilt und die Unterschiede zwischen Bourgeois und Pöbel somit aufgehoben sein sollten? Und wie ist das wiederum bei uns, wo Verlautbarungen zufolge dem stetig schrumpfenden Häuflein Bürgertum ein ungeheurer Massenansturm unbürgerlicher Flüchtlinge gegenübersteht? Haben die Flüchtlinge keine Sorgen? und werden sie im Falle einer Besorgtheit automatisch zu Bürgern, irgendwie sozio-logisch oder so?
Daß der Deutsche Angst hat, ist nicht neu. Der Bewohner des mitteleuropäischen Kernlands ist traditionell furchtsam und eingeschüchtert, und immer fürchtet er das, was ihm am wenigsten droht. Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts fürchtete der Deutsche nicht Ausbeutung, Unterdrückung, Weltkrieg oder meinetwegen die Maul- und Klauenseuche, sondern: den Juden, der offizieller Verlautbarung zufolge sein Unglück war und ihn existentiell bedrohte. Heute fürchtet der Deutsche überwiegend nicht etwa Ausbeutung, Unterdrückung, Weltkrieg oder meinetwegen BSE, Schweinepest, Vogelgrippe (bitte hier den momentan gültigen Saisonvirus dazudenken) und Überwachung, sondern: den Terror, der ihm mit einer Massenflut von Flüchtlingen ins Land schwappt.
Daß dieser Terror überwiegend gar nicht stattfindet, ist wurst. Sorgen tut man sich ja meistens wegen Dingen, die es nicht gibt, die aber unweigerlich zu dräuen scheinen. Weil jemand den Teufel flächendeckend an die Wand malt. Das funktioniert manchmal besser (vgl. Terror), manchmal nicht so gut (vgl. Putin, vor dem außer den „Grünen“ und einigen Zeitungen immer noch niemand so recht Angst haben mag). Aber es funktioniert, und heraus kommt, daß der moderne Deutsche besorgt durch seine Städte und Fluren schleicht und immer besorgter wird, bis ihm nichts anderes übrig bleibt, als Nazi zu werden und eine Flüchtlingsunterkunft anzuzünden.
Dann evakuiert man ihm die Flüchtlinge ein paar Kilometer weg, und er ist eine Zeitlang weniger besorgt, bis ihm klar wird, daß der potentielle Terror nun zwar ein paar Kilometer weiter weg, aber generell immer noch da ist. Weil ihm Radio, Fernsehen und Zeitung alle paar Minuten einen Politiker vorsetzen, der den Teufel an die Wand malt, indem er beschwörend kundgibt, unser „Hauptaugenmerk“ müsse auf „dem Terror“ liegen, der ständig drohe. (Und dem Putin, was aber im Bewußtseinsgewölle des besorgten Bürgers irgendwie dasselbe ist.)
Drum muß man mit besorgten Bürgern reden. Ihnen zum Beispiel mitteilen, daß das Anzünden von Unterkünften Terror ist und daß man, wenn man so was „verübt“ oder durch dummes Gerede herbeiführt oder begünstigt, nicht etwa seine Sorgen loswird, sondern das Leben anderer, ebenfalls besorgter Bürger oder wenigstens Menschen in Gefahr bringt und deswegen ins Gefängnis gesperrt werden muß.
Ihnen ihre Sorgen ausreden hingegen muß man nicht, weil die ja größtenteils Unfug sind. Falls das doch mal nötig wird, weil man gründlich vorgehen möchte oder weil die Besorgtbürger im Fieberwahn der jährlichen Influenza wähnen, da stürme tatsächlich ein Millionenheer von wildwüsten Barbaren heran, die sie zu unterwerfen und einen „Gottesstaat“ zu errichten trachteten, kann man sie ganz schnell beruhigen. Man hört ja gelegentlich, in jenen ostdeutschen Gefilden, die mal eine eigene Fußballnationalmannschaft hatten (an die sich Franz Beckenbauer und Sepp Maier gut erinnern), stünden hunderte Bauernhöfe, Burgen, Schlösser, Dörfer und Städte leer, weil dort keiner mehr wohnen mag. Da ist Platz genug für viele Menschen, die anderswo nicht mehr wohnen können, weil man sie dort mit deutschen Waffen totschießen will. Daß man sich mit denen anfangs nicht so leicht verständigen kann, sollte so problematisch nicht sein; schließlich ziehen auch hunderttausende Norddeutschbürger nach München und ins bayerische Oberland und verstehen kein Wort. Und das mit dem irgendwie anderen Gott, ja mei, das wird man schon geregelt kriegen. Erstens ist hierzulande die Verknuddelung von Staat und Religion sowieso verboten (und die Regierungs- und Verwaltungstätigkeit von Parteien wie CDU und CSU somit per se ebenso verfassungswidrig, wie es eine „Islamistische Soziale Union“ oder so was wäre). Und zweitens haben wir es immerhin geschafft, die terroristischste aller bekannten Groß- und Kleinreligionen so in den Zaum zu kriegen, daß sie heute nur noch selten Kreuzzüge unternimmt und die Urbevölkerung ganzer Kontinente ausrottet.
Das übrige läßt sich leicht klären: Daß es den meisten von uns, ob besorgt oder Flüchtling, nicht besonders gut geht, daß wir kein Geld, keine sichere Wohnstätte, keine frische Luft, keine giftfreie Nahrung, keine Zeit, keine Liebe und wenig Schönes, dafür aber Streß, Druck, Depressionen, Überwachung und psychische Störungen haben, daß unsere Krankenhäuser auf dem letzten Loch pfeifen, die Städte den Autos gehören, unser Trinkwasser verseucht ist und neun Zehntel der Weltbevölkerung uns nicht mögen beziehungsweise glühend beneiden – das liegt an dem Grundübel, das uns früher von außen beherrschte und inzwischen als lebenssteuernder Chip in unser Hirn eingebaut ist, so daß wir gar nicht mehr anders denken und fühlen können: am Kapitalismus. Den sieht man nicht so leicht wie eine Flüchtlingsunterkunft, weil man ihn mit dem Chip im Kopf nicht sehen kann.
Wenn wir unsere Besorgtbürger so weit haben, daß sie das einsehen, wird es allerdings kompliziert. Denn nun sind sie zwar immer noch besorgt und machen sich vielleicht sogar Gedanken, wie man die üblen Zustände ändern könnte. Aber reden darf nun keiner mehr mit ihnen. Das darf man nur mit besorgten Nazis, Antisemiten und ihrem dreiviertelextremistischen Mitläuferschwarm. Den anderen, deren Sorgen sich auf die tatsächliche Ursache des ganzen Elends beziehen, kommt man mit Razzia, Staatsschutz, U-Haft und Hausdurchsuchung. Die nämlich umschwebt der Verdacht, sie könnten das sein, was offizieller Mahnung zufolge das schlimmste ist, was man sein kann: linksextrem!
Das heißt: irgendwie chinesisch. Und da springen wir über drei logische Ecken zu der Frage, ob man sich sorgen muß, daß die echten besorgten Chinesen ausländischen Zuwanderern, die sie bedrohen und ihnen die Haare vom Kopf fressen (Siemens, Apple et al.), demnächst die Unterkünfte anzünden werden und wer dann wie mit ihnen reden soll. Oder hat uns lediglich selbst der Fieberwahn der Influenza gepackt?
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.