Ich empfange manchmal seltsame Botschaften. Zum Beispiel gestern nacht vor einem Briefkasten, dem ziemlich sicher einzigen und letzten verbliebenen seiner Art in Schwabing, den die Post im Zuge ihrer Umwandlung in die „privatisierte“ „Post“ wohl rechtzeitig abzubauen vergessen hat. Da stand vor mir ein Jugendlicher und kritzelte mit einem Eddingfilzer „Narzis raus!“ unter die Einwurfklappe. „Huch!“ sagte ich. „Sind da welche drin? So richtige Narzis? Dann werfe ich den Umschlag mit dem linksradikalen Buch lieber nicht hinein. Am Ende verderbe ich denen noch ihre Weltanschauung!“
An manchen Tagen geht das so. Ein paar Stunden später saß ich im Zug nach Wien, wo neuerdings ein Fernseher zwischen den Sitzreihen interessante Informationen veröffentlicht. Da stand zu lesen, unser Zug werde irgendwann am späten Nachmittag Linz, dann St. Pölten und um 19 Uhr 30 Budapest-Keleti erreichen. Wien wurde nicht erwähnt.Da keiner der anderen Fahrgäste (von denen nicht wenige auf Plätzen mit der Zusatzinformation „München-Wien“ saßen) angesichts dieser Mitteilung einen Mucks machte oder auch nur das Gesicht verzog, vermutete ich einen Witz, den ich, da ich schon seit sechs Wochen nicht mehr nach Wien gefahren war (damals ohne Informationsfernsehen), als einziger noch nicht kannte, machte daher, um nicht als Nichteingeweihter aufzufallen und womöglich unter „Hurra! Der Depp!“-Geschrei aus dem Zug geworfen zu werden, ebenfalls keinen Mucks und verzog keine Miene.
Eine halbe Stunde später hatte sich die Nachrichtenlage leicht verändert. Nun stand da, der Zug werde um 21 Uhr 45 in Linz, gegen 20 Uhr 30 in St. Pölten und um 19 Uhr 30 in Budapest-Keleti anlangen. Nun ja, dachte ich, schließlich fahren wir nach Osten! und zwar ziemlich schnell! Also wird es logischerweise beim Fahren immer früher, bis wir irgendwann (weit hinter Budapest) die Datumsgrenze erreichen und es plötzlich morgen ist. Oder irgendwie so. Ich tat, was man am besten tut, wenn die Welt konfus und unverständlich wird: Ich machte mir ein Bier auf und vergaß den Schmarrn.
Als die Flasche leer war, hatte ich mich mit dem Fluß ständig wechselnder Informationen und absurder Zeitangaben, in denen Wien nach wie vor nicht auftauchte, längst versöhnt, dunzelte friedlich und fragte mich auch nicht mehr, ob vielleicht der Putin heimlich in Ostösterreich einmarschiert war und „Budapest-Keleti“ auf russisch „Wien“ bedeutete. Es haute ja alles hin, mit lediglich acht Minuten Verspätung stand ich in Wien und hatte dort einen schönen Abend, an dem es, ganz getreu den vertrauten Naturgesetzen, später wurde und von Budapest kaum mehr jemand sprach.
Allerdings war mir bei der Rückfahrt am nächsten Morgen leicht unwohl, weil am Wiener Hauptbahnhof auf Gleis 8 der „Railjet“ nach München für 10 Uhr 30 angekündigt wurde und gegenüber auf Gleis 9 ebenfalls ein „Railjet“ nach München um 10 Uhr 30, allerdings mit zehn Minuten Verspätung. Weil der zweite in keinem Fahrplan zu finden war, blieb ich auf Gleis 8 und hatte Glück: Um 10 Uhr 29 fuhr ein Zug ein, der laut Anzeigetafel nun allerdings nach Bregenz und laut Display am Waggon nach Budapest-Keleti fahren sollte. Ich stieg trotzdem ein und landete weder in Bregenz noch in diesem mysteriösen Keleti, sondern mit lediglich 20 Minuten Verspätung in München.
Davor indes wurde mein Ticket kontrolliert, und zwar von einer ebenso netten wie hübschen österreichischen Zugbegleiterin, die sich über die Informationen, die ihr Scanner aus meinem Telephon heraussaugte, sehr zufrieden zeigte. Eine halbe Stunde später stand eine neue Zugbegleiterin neben mir, der alten zum Verwechseln ähnlich, weckte mich und sagte: „Ich bin die neue!“
„Ach so“, sagte ich, „gut!“ Wollte weiterschlafen, was aber nicht ging, weil sie ihren Satz wiederholte: „Ich bin die neue! Darf ich die Fahrkarte sehen?“
„Warum?“ fragte ich. „Die kennen Sie doch schon?“
„Nein, ich bin ja die neue!“
„Die Fahrkarte ist aber die alte!“
(Ich wußte ja nicht, ob in dem elektronisch gespeicherten Ticket überhaupt noch Informationen drin waren, die der Scanner – der vielleicht kein neuer, sondern der alte war – nicht bereits herausgesaugt hatte.)
Und jetzt fällt mir plötzlich ein, daß Kolumnisten so ziemlich alles dürfen, bloß keine Kolumnen über die Bahn schreiben, weil es davon schon mehr gibt als Grashalme und Hundekotwürstchen im Englischen Garten. Also zurück zu den seltsamen Botschaften!
Beim Aussteigen aus dem Zug zündete ich mir eine Zigarette an, woraufhin eine unbekannte Frau „Der endet hier“ sagte und vielleicht mich meinte. Ich habe prinzipiell etwas gegen Endungen (außer an Wörtern), deswegen wollte ich „Nein, nein!“ antworten, antwortete aber aufgrund einer Schnackselbewegung in meinem Kehlkopf: „Argh, örgl.“ „Ma si bosl“, sagte die Frau und ging davon. Ich rätselte. Kaum drei Minuten später teilte mir die Türmechanik einer U-Bahn mit: „Pfff! Zwietädööö!“ Kaum zwei Minuten zuvor hatte mir ein unbekanntes Elektrogerät in der Eingangshalle „Blurbl! Blurbl! Blurb!“ eingeschärft. Die nächste Botschaft war nonverbal: Ich begrüßte meinen Ananassalbei mit einem fröhlichen „Guten Tag, alter Freund!“, woraufhin er mir eine Handvoll rosaroter Blüten hinwarf und schwieg. Immerhin: eine Insel der Verständlichkeit im Ozean des Halbfugs.
Dann erreichte mich eine SMS von der Liebsten, in der sie eine nahe Verwandte mit dem Wort „Yurkurt“ zitierte und auf deren Lese-Rechtschreib-Schwäche hinwies. Dazu sagte man früher mal Legasthenie, sagt man jetzt aber nicht mehr, weil das diskriminierend klingt und weil außer Legasthenikern niemand weiß, wie man das schreibt – wohingegen jedermann „Joghurt“ schreiben kann (und auf Befehl eines Verlagskonzerns in letzter Zeit sogar noch das h wegläßt), obwohl sich „Yurkurt“ wesentlich eleganter und anschaulicher liest. Und da beschloß ich spontan, an freiwilliger Legasthenie zu erkranken und all den seltsamen Botschaften, die Tag und Nacht auf mich einstürzen, künftig ein herzhaftes „Yurkurt!“ entgegenzuschmettern. Mal schauen, wie der Ananassalbei reagiert.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.