Belästigungen 25/2017: Adieu November! (vermischte Nachrichten aus dem Urgrund der Depression)

Wer einen November wie den soeben dahingeschiedenen überstanden hat, ohne wenigstens eine milde Depression in den hierfür zuständigen gräulichen Hinterkopfnebeln zu hegen, dem ist wahrscheinlich nicht zu helfen. Da kam wie immer alles zusammen, was zusammengehört: Kaum hat man herbstordnungsgemäß beschlossen, die Jahreszeit des täglichen Heißbadens sei nun auch mit Hinweisen auf einen angeblich anstehenden Dezembersommer nicht mehr aufzuschieben, haucht der Boiler mit einem diskreten „klick“ sein Leben aus. Der zuständige Handwerker, dessen Aufkleber samt Telephonnummer und der Ermahnung zum alldreijährlichen Entkalken seit elf Jahren ungenutzt am Rand des verblichenen Großgeräts klebt, zeigt sich hiervon ungerührt: „In nächster Zeit“, teilt er mit, habe er keinen Termin frei, „und auch auf längere Sicht nicht.“Längere Sicht? Der Blick in den Novembernebel findet kein Ziel, das diesen Ausdruck rechtfertigen könnte. Aber irgend etwas schwärt da draußen, notdürftig, halbherzig und, ähem, durchschaubar übertüncht vom Geschnatter und Gemurre der Meisen, Amseln und Eichkätzchen, die sich beschweren, weil bei „Sonnenaufgang“ (i. e. der minimalen Erhellung des horizontüberspannenden Graus kurz vor Mittag, die knapp zehn Atemzüge später im Duster verglimmt) die Nuß- und Sonnenblumenkernarsenale vor dem Fenster nicht ordnungsgemäß aufgefüllt sind, da der hierfür zuständige Mensch sich nicht überwinden kann, unter dem Blätterteig von circa sieben bis zehn Wolldecken herauszukriechen, unter den er vermutlich irgendwann vor langer Zeit, als tatsächlich noch Sonnen aufgingen, gekrochen ist.

Es ist die Jahreszeit der Zusammenbrüche. Der ehemalige Boiler und sein flüssiger Inhalt sind noch nicht ganz kalt, als die Tasse ihren noch nicht ganz kalten Inhalt über die Tastatur erbricht und der notfällig hervorgezogene Ersatzcomputer mit einem zierlichen „bipp“ solidarisch den ewigen Winterschlaf antritt. Als nächstes ächzt die Kaffeekanne ein letztes Mal und zerspringt in einem suizidalen Aufwallen von Fröhlichkeit zu Porzellanblechschrott. Viel kriegt man davon nicht mit, weil derweil der Staubsauger so gotterbärmlich röhrt, daß man fast froh ist, als er nach zwei Minuten gotterbärmlichem Röhren seinen sowieso vernachlässigbaren Geist endgültig aufgibt.

Das ist erst der Anfang, dessen lebensverneinende Energieauspuffung eine Armada elektrischer und elektronischer Geräte begierig aufsaugt und binnen kürzester Zeit den Dienst einstellt, bis man endlich, umwallt von novemberiger Samtstille, in einem komplett dysfunktionalen Haushalt kauert und sich wünscht, als Wimpertierchen wiedergeboren zu werden. Diese eigentümliche Lebensform nämlich kommt gänzlich ohne technisches Brimborium aus, hat sich seit Devon oder Silur nicht weiterentwickelt, tut tagein, tagaus nichts anderes als essen, kopulieren (und zwar erstaunlicherweise nicht zum Zweck der Fortpflanzung, die durch eine „Quer- oder Längsteilung erfolgt“, sondern nur aus Lust und Laune!) und (so sagt’s das Lexikon) „auf Reize einen langen Proteinfaden nach außen zu schleudern, dessen Funktion allerdings noch nicht ganz klar ist“. So wie beim sinnlosen Geblödel fröhlicher Menschen, dessen Funktion mutmaßlich niemals klar werden wird, weil es sie nicht gibt.

Indes hat das Leben als Wimpertierchen einen großen Nachteil: Es endet nicht. Die Vorstellung, bis zum Sanktnimmerleinstag in einer Pfütze herumzuwimmeln und hie und da einen Proteinfaden nach außen zu schleudern, versöhnt einen nicht mit der Existenz als sterblicher Mensch, sondern verdeutlicht nur noch mehr die Sinnlosigkeit und Traurigkeit des Universums. Aus Verzweiflung, damit sich irgendwas rührt, schaltet man den Radio an, der aus unerfindlichen Gründen noch geht und, zwar aufgrund technischer Innovationen digital brümmelnd und lispelnd, aber kaum mißverständlich, zunächst den üblichen Schlamm von „Groko“-Geplapper, Glyphosat-Verharmlosung und „Merkel will Lohnnebenkosten begrenzen“-Schmarrn ausspuckt.

Dann aber besinnt sich das Gerät und sendet ein Gespräch mit einem Psycho- oder Soziologen oder wie man diese Leute gerade nennt, der verkündet, die gesamte Moderne (hieß die nicht vor ein paar Jahren noch Postmoderne? Egal) sei durch und durch und insgesamt das Zeitalter der Depression, die unweigerlich jeden einzelnen heute (noch!) lebenden Menschen befalle. Und zwar weil: sich etwas ändert! Veränderung, sagt der kluge Mann, ist Urgrund und Auslöser der Depression, weshalb sich in Städten, insbesondere Großstädten, wie München zweifellos eine ist, Schwer-, Mies- und Dunkelmut ganz besonders wild austoben. Er wisse andererseits von Patienten, die ihre große Liebe geehelicht beziehungsweise Millionengeldberge im Lotto gewonnen beziehungsweise nach Jahren im miesen WG-Kämmerchen (sicherlich nicht in München) eine bezahlbare und geräumige Traumwohnung gefunden haben und durch diese vermeintlich freudeträchtige Veränderung in den Abgrund der Depression geschubst worden seien.

Da eröffnet sich ein teuflisches Dilemma: Weil sich alles ständig ändert, sind alle ständig depressiv, aber ändern kann und darf man daran nichts, weil das nur das Gegenteil des Bezweckten bewirkt. Es bleibt mangels Aus- und Umweg nur eines: sitzenbleiben im Schrotthaufen verblichener Technik, den Radio (dessen Schallgewelle die Atmosphäre mutwillig verändert) ausschalten, den trüben Blick durchs Fenster in die depressiven Gesichter von Meise, Amsel, Eichkatz wehen lassen (oder hat jemand jemals einen dieser Erdmitbewohner oder irgendeinen anderen lächeln gesehen?) und im kontemplativen Grau versinken, um festzustellen: Wenn sich erst mal überhaupt gar nichts mehr verändern kann, ist so eine Depression ja irgendwie ganz schön. Oder zumindest gemütlich.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen