Frisch gepreßt #373: Die Höchste Eisenbahn „Wer bringt mich jetzt zu den anderen?“

Es gibt Leute, die finden es schade, daß die späten 60er so lange her und überhaupt vergangen sind. Weil da alles so anders war, so locker und lustig, frei, unbeschwert und bunt. Menschen flogen zum Mond, zogen in Kommunen aufs Land, ließen sich die Haare wachsen, diskutierten nächtelang über das gute Leben und gaben so viel auf gesellschaftliche Konventionen (Ruhe! Anstand! Ordnung! Krawatte!), wie die Menschen heute auf das Gegenteil geben. Musik hörte man mit schwingenden Batiktüchern und einer Tüte voller indischer Rauchkräuter im Mund, und wenn man heute eine tolle Idee hatte, war es morgen schon wieder eine andere. Vor allem war man sich einig: Es wird alles immer besser.

Vielleicht sollte man dazusagen, daß das nicht die Welt war. Die bestand aus einem Kapitalismus, der vor sich hin tickerte wie eine zu globalem Ausmaß angeschwollene elektrische Schreibmaschine mit Milliarden von Menschen als festgeschraubten Typenhebeln, die gerade erst angefangen hatten, sich mit den Schrauben in ihren Schädeln abzufinden, weil sie dafür mit krebserregend buntgefärbten Blubberlutschgetränken und einem Jahresurlaub in Caorle, Bibione oder Cesenatico entschädigt wurden, weil man ihnen mit schwärmerischen Reklamefilmchen versprach, es gehe „frischwärts!“, Top-Set sei groovy, und anders gehe es sowieso nicht. Sie bestand zudem aus der Blutmaschine eines laufenden Krieges, der fast fünf Millionen Menschen das Leben kostete, das ganze Land Vietnam verwüstete und die kriegführende Nation USA selbst an den Rand des Bürgerkriegs brachte, und einem dräuenden, angedrohten, beständig in Vorbereitung befindlichen noch viel epochaleren Krieg derselben Nation gegen die UdSSR, von dem man ahnte, daß mit ihm das Leben auf Erden zumindest menschlicherseits für immer enden würde.

Vielleicht war die Welt deswegen so schön: weil man all das nicht wahrhaben wollte, sich die Ohren zuhielt und mit manischem Grinsen „Lalalalala!“ sang, damit der böse Alptraum wegging. Aus dem „Lalalalala!“ wurde die vielleicht schönste, freieste, hoffnungsvollste, emanzipierteste, schrankenloseste, psychedelischste und schwingendste Popmusik aller Zeiten, in der wirklich alles erlaubt war und man trotzdem souverän auf dem Hochseil zwischen Liebe und Frieden über einem gähnenden globalen Abgrund tänzelte.

Es gibt Leute, denen ist das ganz egal. Zwar leben wir heute wieder in einer Welt, in der die Blutmaschine des Krieges an allen möglichen Orten, in allen möglichen Ländern Hoffnungen, Träume und Leben frißt, in der ein dräuender, angedrohter und beständig in Vorbereitung befindlicher Superkrieg der um eine ganze NATO erweiterten USA gegen ein Rumpfrudiment der ehemaligen UdSSR sehr bald das Leben auf Erden zumindest menschlicherseits für immer beenden könnte. Zwar ist der Kapitalismus inzwischen keine tickernde Schreibmaschine mehr, sondern ein digitales Superwesen, das das ganze Universum erfüllt und dessen virtuelle Bestandteile gar nicht mehr merken, daß sie einen Körper und einen Geist und ein Leben haben und Menschen sein könnten, und ihren Trosturlaub an den fernsten Orten einer langsam sterbenden Welt verbringen, die alle gleich aussehen, und ihre Blubberlutschgetränke nicht mehr färben, aber mit krebserregenden Süßstoffen diätkompatibel machen.

Egal ist das alles diesen Leuten, weil in ihrer Privatwirklichkeit alles so anders ist, so locker und lustig, frei, unbeschwert und bunt. Weil man in Kommunen aufs Land zieht, sich die Haare wachsen läßt und nächtelang über das gute Leben diskutiert, auf gesellschaftliche Konventionen (Leistung! Anpassung! Eigenverantwortung!) scheißt und mit einer Tüte voller indischer Rauchkräuter im Mund eine Musik hört, die nicht mehr klingt wie ein manisch grinsendes „Lalalalala!“, sondern wie ein blühendes Feld wilder Sonnenblumen, ein abendliches Lagerfeuer am dampfenden See im September, ein Tanz in wogenden Wiesen und ein tagelanges Frühstück auf der Terrasse in einer besseren Welt, die immer besser, immer freier, immer aufrichtiger und immer schöner wird.

Das zweite Album der Höchsten Eisenbahn ist ein Urlaub in dieser Welt. Nein, mehr: ein Versprechen, daß es diese Welt geben könnte und vielleicht eines Tages sogar geben wird. Wer das nicht glauben mag, der leihe versuchsweise zumindest „Lisbeth“ ein Ohr, und dann: kriegen wir das hin, gemeinsam, alles.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Kommentar verfassen