WM-Tagebuch 2006 – 13 Chronik eines angekündigten Untergangs

Mittwoch, 5. Juli 2006:

Dienstag um zwei im Englischen Garten: M. ruft an, er sei am Düsseldorfer Flughafen, und wo er wohl hinfliege? Nach Dortmund! Das sei doch der Wahnsinn! Dabei ist P., dessen Lied zur WM auf Platz eins der deutschen Charts steht, gerade noch rechtzeitig, meine ich, weil der Traum heute abend wohl vorbei ist. Als ich das Telephon weglege, hallt die Begeisterung in mir nach, ernte ich skeptische Blicke aus drei Richtungen: ein Defaitist unter uns?

Halb fünf auf der Hohenzollernstraße: G. trägt leere Plastiktüten ums Haus und sieht aus wie narkotisiert. Nein, er komme nicht mit zum Fußballspielen, sei erst nächste Woche wieder ansprechbar. Was ich tippe? Zwei bis drei null für Italien, vages Vorgefühl von Elferschießen. Ihm fehlt die Kraft für Empörung oder Lächeln.
Halb sieben am Flaucher: Die Großleinwand kaum zu sehen im Sonnengrell, erste Deutschmonturen sitzen da, weitere tröpfeln ins Tischgewirr, zaghafte Tambourprobe. Alles wirkt unsicher, wie eine Familie kurz vor der riskanten, aber möglicherweise lebensrettenden Operation des Oberhaupts. Zum erstenmal scheint sich die Ahnung einzuschleichen, daß man selber nichts tun kann; versuchen wird man es trotzdem, bis die Hände schwellen und die Kehlen rasseln.

Schwabing, kurz vor halb zwölf: Kein entsetztes Geplärr, als Fabio Grosso endlich und endgültig den Luftballon aufsticht; oder doch irgendwie: ein Aufschrei der Stille, fast monströs und unheimlich, der minutenlang anhält. Das Zweiergespann der Machtdarsteller eilt in die Kabine der Geschlagenen, mit Gesichtern, als fürchteten sie den schockartigen Zusammenbruch ihres Gesellschaftsumbauprojekts. Im stumm gelähmten WM-Studio versucht man sich in aufgewärmter Motivationshysterie; in einer Sprechpause das nüchterne Geräusch eines müde hinfallenden Klappstuhls; im Hintergrund sieht man Gebeugte davonschleichen. Niemand mag sich freuen, daß viel mehr erreicht wurde, als man (vorgeblich) erwartet hat.

Dann, mit einer seltsamen Verzögerung (als hätten sie abgewartet, ob das Ergebnis nicht nachträglich für ungültig erklärt wird): das Hupkonzert der Italiener, wild und polyphon, bald in Zufriedenheit ausklingend. Die erste Nacht nach einem Deutschlandspiel ohne klirrende Scherben und Lallbrüllen vor dem Haus.

Freitag, gegen neun: ein milchgläserner Morgen über der wiedererwachenden Stadt, deren „von vorher“ gewohnter Geräuschdunst eigentümlich neu und fremd wirkt. Wo waren die alle die letzten Wochen? und wo ist das andere hin?

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