WM-Tagebuch 2006 – 12 Der unergründliche Augenblick der Identifikation

Samstag, 1. Juli 2006:

Es fällt schwer, für Nationalmannschaften Begeisterung zu entwickeln, weil sie keinen Ort haben, kein Milieu, keine Geschichte, weil sie die Perfektion des modernen Fußballs sind: Unter ökonomischen Gesichtspunkten zusammengestellte Funktionsträger erzeugen Erfolgsergebnisse; bleibt der Erfolg aus, fahren sie zurück in die Luxuszentren des privatisierten Modernfußballs, nach Madrid, London, Mailand, Manchester, Barcelona, München.

Aber bei einem Turnier mit so vielen Spielen meint man um eine Identifikation irgendwann nicht mehr herumzukommen, was unterschiedlich bald unterschiedlich stark fast immer gelingt, meistens doch über das Lesen des Spiels. Holland 1974: eine leichte Wahl (perfekt bis zum tragisch verlorenen Finale), Deutschland 1970 eine späte (Halbfinale), Marokko 1986 trotz frühem Ausscheiden so intensiv, daß ich kaum eine Woche nach dem Finale an den Strand von Khenitra getrampt bin, um mit einer einheimischen Barfußmannschaft in den Sanddünen zu kicken. Kamerun, Kroatien, England, Senegal, Frankreich: alle hatten ihre Momente, Tage, Wochen, waren bald wieder vergessen; unerforscht blieb der Augenblick, in dem das passierte.

Wie gestern abend: Waren es die Minuten nach dem Ansturm der Ukrainer, die zu Beginn der zweiten Halbzeit in zehn Minuten mehr Torchancen hatten als Deutschland und Argentinien in zwei Stunden? die unprofessionell freudeschönen Gesichter nach dem 2:0? die Hinterkopfgeschichte vom Selbstmordversuch eines italienischen Spielers wegen des Bestechungsskandals? Nicht zu sagen, aber irgendwas ist da geschehen. Heute nachmittag fragt der Mann im Laden an der Ecke, für wen ich eigentlich bin. Wie aus der Pistole geschossen: Italien. Wird ein schönes Finale gegen Portugal. Aber ich sei doch Deutscher? Ja ja, nichts dagegen, denen gönne ich den dritten Platz (Elfmeterschießen gegen Brasilien).

„Italien“, sagt er, lachend, „pah! Alles Schwerverbrecher! Dann heute nix Sonderpreis für Bier.“ Rechnet aber doch elf für zehn, und ich lege ihm zwei Euros in die Trinkgeldblechbüchse, für seine Iraner, die er auch nicht mag. Und er lacht noch lauter: „Chips aus. Aber Nudeln noch da!“

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