WM-Tagebuch 2006 – 03 Ein Tag bis alles und nichts

Dienstag, 8. Juni 2006:

Die Gegenwart ist ein Sinnfeld, das aus dem Kontrast zwischen Eindrücken und Erinnerungen entsteht; diese markieren das Spielfeld, auf dem jene sich Regeln fügen, die sie als Geschehnisverläufe über den unfaßbaren Augenblick hinaus erfahrbar machen und die auch für Überraschungen gelten. Am stärksten und weitesten erleben wir das „Wunder“ in der Musik, die den sozusagen ortlosen Schnittpunkt von Eindruck, Erinnerung und Erwartung zu einem „Gegenwartsraum“ zu erweitern vermag.

Je naiver der Blick, desto einfältiger zeigen sich Formen und Verläufe bis ins kleine Detail; dem erfahrungsarmen Beobachter begegnen unerwartete Wendungen als Wunder, sammeln sich zum Weltzustand, der (noch) nicht ins Bewußtsein gedrungen ist. Vielleicht hieraus speist sich der Reiz des Fußballspiels: aus dem Kontrast zwischen einem Ideal unvorhersehbarer Bewegung und dem Hintergrundbewußtsein des unveränderlich bestimmten Regelfeldes. Der Versuch, aus der nüchternen Sachlichkeit erfahrungsgelenkter Feststellung mittels deren Durchdringung und Ausblendung eine neue Naivität als Offenheit für das ab- und jenseits der Spur sich Ereignende erstehen zu lassen, die wiederum ergründend wirken kann, ist der Ausgangspunkt der regressiven Spirale des Scheiterns (z. B. Kafka, aber das gehört nicht hierher).
Stecken wir das Feld so weit wie möglich ab: „Mein Leben beginnt mit der Kriegserklärung“, schrieb Ödön Horváth zwischen den Weltkriegen über seinen dreizehnjährigen Erfahrungszustand als Blickpunkt auf die folgende Gegenwart. 1946 antwortet Karl Valentin: „Das war noch eine goldene Zeit bis 1914–- dann is’ der Saustall losgangen.“ Die „Gegensensation“ zur nicht von Erinnerung gedeckten, ja sich von dieser befreien wollenden Euphorie des solcherart zur Permanenz gerinnen sollenden Aufbruchs ist die Melancholie. Beides – die sinnlich-gegenständliche Erlebnisweise des Kindes, dem sich im gegenwärtigen Nichts das Alles der Welt offenbart, und das erfahrungsbedingte Verschwinden in großen Abstraktionen, das in allem das Nichts erkennt – vermengt sich im „Seinszustand“ der Jugend und im Spiel.
Hier kommt die Gegenwart. Schauen wir mal.

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen