Frisch gepreßt #353: Van Morrison „Astral Weeks“

Vor Van Morrison habe ich mich als Kind irgendwie gefürchtet. Na ja, nicht direkt gefürchtet, aber große Lust, ihn kennenzulernen, hatte ich auch nicht. Der schaute so böse und wirkte so brummig, und als er dann nicht mehr ganz so brummig wirkte und böse schaute, da schaute und wirkte er dann verschlossen und schwierig und … Jedenfalls stand „Astral Weeks“ meine ziemlich komplette Kindheit und Jugend lang im Regal herum, ohne daß ich die evolutionäre Dauerschleife von Beatles, Stones, Monkees, T. Rex, Slade, Alice Cooper, Bowie, Roxy, Progrock, New Wave, Punk usw. usf. je für eine gute Dreiviertelstunde unterbrochen hätte, um dieser Platte mal ein Gehör zu leihen (oder auch nur Lust dazu zu kriegen).

Ein Fehler, wie sich jetzt (ja, das oben Gesagte gilt tatsächlich bis heute!) zeigt. Oder auch nicht, denn was gibt es Schöneres, als Sachen zu entdecken, und daß die Platte bald fünfzig und Van Morrison seit Ende August siebzig Jahre alt ist, spielt dabei keine Rolle – das Zeug, das Archäologen und Schatzsucher aus dem Boden herausgraben, ist im Zweifelsfall noch ein paar Monate älter und trotzdem oft erfreulich.

Freilich habe ich Van Morrison im Lauf der Jahre auf anderen Wegen kennen- und schätzen gelernt, mit den „irischen Beatles“ Them, mit seinen dampfigen, klassisch famosen Soul- und Bluessachen, das paßt schon alles, aber „Astral Weeks“ ist doch was völlig anderes: Der Titelsong zum Beispiel mit seinen superprimitiven Zwei-Akkorde-Harmonien stürzt einen sofort in die urbritische, folksüchtige Denk-, Fühl- und Vorstellungswelt jener Zeit um 1968, als die ganze erste und zweite Generation von Rockmusikern des hektischen Rockens plötzlich müde war, aufs Land zog und von Hobbits, Rittern, Magiern und zärtlichen Burgfräuleins sang.

Und das geht so weiter: scheppernde Akustikgitarren, Fiedelgeigen, Flöten, hier und da Gebläse, ekstatisch reduzierte Rhythmusarbeit; man sieht die Leute förmlich ums nächtliche Lagerfeuer tanzen wie ein wogender Gesamtorganismus. Erst mit der Ballade „Cyprus Avenue“ (von der man sich spontan fragt, wieso sie Rod Stewart nicht spätestens 1971 gecovert hat) löst sich der Zauber, aber nicht im Kater, sondern in einer weiteren, tieferen Sehnsucht, und spätestens da ist man so durchflutet von der glühenden, vibrierenden Lebensfreude, daß man das Fenster aufreißen und über den Ozean jauchzen möchte, egal was.

Es hat übrigens zwei Tage gedauert, diese Platte aufzunehmen: Los ging’s am 25. September 1968; da waren, als der Morgen dämmerte, vier Songs fertig. Am 1. Oktober traf man – Morrison hatte sich, deutlich zu hören auf „The Way Young Lovers Do“, mit einer ganzen Blase von Jazzern umgeben, vielleicht um ihnen den Jazz, mit dem er nichts anfangen konnte, auszutreiben – sich wieder, aber diesmal kam, wie man so sagt, „nichts Verwertbares“ zustande. Vielleicht weil die Session diesmal vormittags begann, da können nun mal höchstens moderne Rockhersteller ihrem faden Handwerk nachgehen. Am 15. Oktober trafen sie sich wieder, noch mal vier Songs, das war’s. Klingt simpel, aber was an Gedanken, Träumen, Assoziationen in den Texten, was an Inspiration und Interaktion in dieser Musik steckt, das ließe sich mit tausend Overdubs, Klickspuren, Effekten und Arrangements nur ruinieren. Man höre notfalls versuchsweise neuneinhalb Minuten „Madame George“, eine wahre Wundertüte, ein Feuerwerk auf den simpelsten drei Akkorden der Weltgeschichte (G-Dur, C-Dur, D-Dur). Zwischendurch verliert der Schlagzeuger mal den Anschluß, selbst das ist egal.

So kann es einem gehen, aber vermutlich nicht nur einem: „Astral Weeks“ taucht seit Jahrzehnten immer wieder auf den oberen Rängen diverser „Platten aller Zeiten“-Listen auf, verkaufte sich aber von Anfang an so schleppend, daß erst nach 33 Jahren wenigstens eine Goldene Schallplatte heraussprang. Dafür braucht ein Avicii geschätzte fünf Minuten. Indes ist es unwahrscheinlich, daß in fünfzig Jahren jemand Lust hat, sich eine Deluxe-Ausgabe von dessen Tracks anzuhören. Zumindest wird er sicher nicht erleben, was der Schreiber dieser Zeilen heute nachmittag erlebt hat. Und das gilt auch noch in fünfzig Jahren, versprochen.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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