Belästigungen 25/2015: Von Kälte, Wärme, Rotz, Wasser und dem Zauber des selbst herbeigeführten Kurzwinterschlafs

Die Freuden des Winters sind durchaus divers und paradox. Die einen stürzen sich manisch hinaus ins klirrende Kalt und rutschen auf Brettern und Lattengestellen durch die Gegend, bis ihnen Nasen, Ohren und Zehen abfrieren, löten sich hinterher in dröhnenden Holzhütten mit Giftgebräu wie Glühwein und Jagertee das Hirn zu und finden das einen so urigen Spaß, daß sie sich notfalls selbst im höchsten Hochsommer mit Hubschraubern auf sieche Restgletscher kurbeln lassen, um denen nebenbei den Rest zu geben.

Andere verheizen ganze Wälder, Gastanks und Ölfelder, stapeln sich in Saunen und rasen in Geschwadern von Flugzeugen um den Globus, um die Sommerhitze, über die sie Ende September noch gestöhnt haben, als Dauerzustand zu erhalten. Manche tun – in einer Art klimatischer Schizophrenie – gar beides abwechselnd. Und irgendwo am Rande west der Vernünftige, der bei Anbruch der ersten Fröste die Decke bis an den Hals zieht, Dutzende Folgen „Fargo“, „True Detective“ und (weil der frühe Winter nun mal die Zeit der Nostalgie ist, auf die wir noch kommen werden) „Buffy“ oder „Enterprise“ bereitlegt und sich der unvermeidlichen Influenza (oder korrekt gesagt: ihrem kleinen Bruder, dem grippalen Infekt) ergibt. Weil er weiß: Die beste Abhärtung ist die Immunisierung – ein Virus, den man mal gehabt hat, der beißt sich hinterher die Zähne aus, wenn er sein Schleim-und-Hust-Theater zu Zeiten aufführen möchte, in denen man so was ganz und gar nicht brauchen kann. Nämlich in Form der absurdesten Erkrankung, die es gibt: der „Sommergrippe“.

Daß sich der Mensch erkältet, ist die wahrscheinlich älteste Erkenntnis der Welt – und der älteste Irrtum. Mit Kälte hat der ganze Schmarrn so gut wie nichts zu tun, nämlich nur dies: Wenn einen der Virus (der dummerweise ebenso vom Innovationswahn gepackt ist wie der Mensch und deswegen ständig neue Mutationen hervorbringt, so als wäre er ein Windows-Programm, weshalb die verfügbare Auswahl für eine hundertjährige Gesamtbiographie mit zwei bis fünf Infekten pro Jahr locker reicht) – wenn einen dieser Virus erst einmal erwischt hat und sein ungutes Werk der Schleimproduktion in Angriff nimmt, merkt man das daran, daß es einen fröstelt. Und zwar obwohl es gar nicht kalt ist. Oder obwohl es doch kalt ist oder beides – Experimente von Forschern, die nackte Freiwillige mit Eiswasser übergießen oder sie in ungeheizten, vom Zug durchwehten Tröpfelduschen herumsitzen ließen, ergaben ein mehrdeutiges Ergebnis: Wenn es kalt ist, erkältet man sich oder nicht. Wenn es warm ist: auch. Hält man also Kälte für die Ursache der Erkrankung, sitzt man demselben Irrtum auf wie der Soziologe, der behauptet, der Mensch werde automatisch dumm, wenn er nur lange genug FDP oder AfD wählt.

Im Gegenteil mag ein großer Teil der wimmelnden Virenfamilie Kälte gar nicht so gern. Da werden sie nämlich selber siech, die Winzwesen, und deswegen ist es ihnen ganz recht, daß sich der Mensch winters besonders gerne ungewaschen, vollgeregnet und verschwitzt in öffentlichen Verkehrsmitteln zusammenpfercht, wo es dann hübsch mollig wird und nur am einen Ende der Trambahn einer niesen muß, um hundert andere mit ins rotzende Unglück zu reißen.

Indes gibt es selbstverständlich jede Menge Studien, die das genaue Gegenteil beweisen, und wie das in der menschlichen Wissenschaft nun mal so ist, weiß bis heute niemand auch nur ansatzweise, wie das denn nun wirklich zugeht mit dem Erkälten. Man ahnt, was eventuell nicht die Ursache ist oder doch oder nicht in erster Linie, aber das war’s auch schon. Manche Zeitgenossen sinken für Tage aufs Krankenlager (oder schleppen sich in der moderneren Variante des Umgangs mit Krankheiten wochenlang halbtot an den Arbeitsplatz), wenn sie drei Sekunden lang einem Luftzug ausgesetzt sind; meine Oma hingegen schlief fast hundert Jahre unmittelbar neben dem offenen Schlafzimmerfenster und war, soweit ich mich erinnere, ein einziges Mal leicht verschnupft (da mag auch Pfeffer im Spiel gewesen sein).

Am Ende ist es vielleicht doch so, daß der Infekt einen unergründlichen und unwiderstehlichen nostalgischen Reiz hat. Wer erinnert sich nicht gerne winterlicher Kindheitstage, wenn draußen der bläuende Himmel strahlte und der Schnee glitzerte, während man drinnen in Kissenbergen saß, umgeben von einem unüberschaubaren Chaos aus Donald-Duck-Heften, Science-Fiction-Schund, Schüsseln mit Knabberzeug und Süßigkeiten, in Sichtweite der Fernseher, in dem die zauberhaften Uraltfilme liefen, die man sonst nie sehen konnte, weil sie nur mittags kamen?

Da saß man dann in einer sozusagen zwangsweise mutierten Form des Winterschlafs (den die Industrie dem Menschen abdressiert hat), blätterte, glotzte, fieberte, vergaß Zeit und Raum und Pflicht und Ziel, fiel bei Bedarf in einen kurzen Schlummer, mußte nichts tun, nichts sagen, nichts denken außer dem, was zwischen Traum und Erinnerung von selbst in den Kopf hinein schwappte. Mußte: nur sein, nach Lust und Laune.

Freilich ist irgendwann die Nase wund, tut der Rücken weh, röten sich die Augen vom unablässigen Fernsehen, aber da ist es ja im Normalfall auch wieder vorbei. Dann strebt man frohgemut, erholt und gestärkt hinaus in die frische Luft und freut sich des Lebens nach dem Kurzurlaub im ideell restaurierten Kinderzimmer mehr als zuvor. Weshalb die einzig plausible Antwort auf die Frage, warum und wie sich der Mensch erkältet, nur lauten kann: weil er es will und braucht und indem er es tut.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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