Belästigungen 17/2015: Erst fällt ein Schild, dann schrumpft die Stadt, und keiner weiß, was los ist

Eine Stadt ist ein ganz schön gewaltiges Konglomerat von Zeugs. Da kann schon mal was verlorengehen, ohne daß einer was merkt. Zum Beispiel ist mir vor vielen Jahren mal fast ein Straßenschild auf den Kopf gefallen, als ich an einer Kreuzung stand und auf Grün wartete. Es hing da so, als hätte es ein paar Maß zuviel getrunken und im Überschwang der rauschigen Lust eine Mutprobe unternommen, die typisch peinlich damit endete, daß es eben so rumhing und ächzte und mir bei einer vorsichtigen Berührung – pleng! – vor die Füße fiel.

Ich beschloß, dem Schild ein neues Zuhause zu geben. Vielleicht konnte man es (die Achtziger!) als originelle Salatschüssel oder ähnlich verwenden, und sowieso ist der Mensch nun mal ein Sammler. Seitdem steht das Schild im Keller.

Aus Gründen der Vorsicht – man weiß ja nicht, ob es sich dabei eventuell um ein Aneignungsdelikt handeln könnte und wann ein solches verjährt – möchte ich nicht verraten, an welcher Kreuzung sich dies abspielte (und vorsorglich gleich noch hinzufügen, daß der zweite Teil der Geschichte möglicherweise erfunden ist). Jedenfalls hat den Abgang des Schildes (wohin auch immer) offenbar nie jemand bemerkt, nicht mal ein kurzsichtiger Tourist, der ansonsten mangels Brille (es gibt ja noch drei weitere Schilder, aber in einiger Entfernung) nicht gewußt hätte, an welcher Kreuzung er sich befand, und seitdem auf der Suche nach einem Flughafen (den es damals noch nicht gab bzw. heute nicht mehr gibt), ziellos im Kreis herumirrte.

So geht das in großen Städten wie München auch mit anderen Sachen. Zum Beispiel Wohnungen, speziell solchen, die für normale Menschen bezahlbar sind: Die verschwinden andauernd, ohne daß es jemandem auffiele. Dann sind plötzlich keine mehr da, und dann finden es manche Leute sehr dringlich, neue zu bauen.

Auf den ersten Blick klingt das vernünftig: Bauwerke, die es nicht gibt, sollte man bauen, damit die Leute nicht auf der Straße herumkampieren müssen und durch ihren verwahrlosten Anblick den Fortgang des Aufschwungs stören und die Lebenswertigkeit der Stadt ankratzen. Zudem gibt es ja noch genügend idyllische Grün- und Brachflächen, Gärten, Höfe, Parks und historische Kleinhaussiedlungen, die man mit Betonriegeln vollstellen kann, vorzugsweise am Rand selbiger Lebenswertigkeit, damit das zusammengepferchte Elend ebenso außer Sichtweite bleibt wie das herumlungernde.

Aber dann fragt man sich doch mal: Wo sind eigentlich die x Fantastilliarden Wohnungen und insbesondere Sozialwohnungen, die in München in den letzten achthundert Jahren und vor allem seit dem letzten Weltkrieg gebaut wurden, hinverschwunden? Sind die etwa allesamt wieder zerbröselt und haben sich in Grünflächen verwandelt? Wieso ist die Stadt dann dermaßen gewachsen, und wieso stehen da so viele Häuser herum?

Das fragt man sich zum Beispiel, wenn man nachts durch einen Stadtteil geht – sagen wir mal Schwabing – und an schier endlosen Reihen prächtiger, wunderschöner, historischer Gebäude vorbeikommt. Die Frage ist aber leicht zu beantworten: Diese Häuser stehen leer. Da wohnen lediglich ein paar Computer und Telephone, und die sind nachts nicht in Betrieb. Und warum das so ist, weiß man ja auch: Wohnungen wie diese können sich Menschen nicht leisten. Das können nur Firmen; die haben genug Geld, weil sie den Menschen, die das Geld erzeugen, so wenig davon abgeben. Sie könnten auch in die vielen gänzlich leerstehenden, aus Spekulationsgründen hochgezogenen Bürohäuser an der Peripherie ziehen, aber erstens sind die ebenfalls nicht billig, und außerdem müssen die Firmen (Kanzleien, Agenturen, Büros etc.) ja repräsentativ protzen. Schließlich sind sie die Herren der Stadt und die Sieger im Wettbewerb und nicht die Menschen, die tagsüber, wenn sie Glück haben, ihre Computer und Telephone bedienen (!) dürfen.

Mit den Sozialwohnungen ist es ein bißchen anders: Die verwandeln sich. Und zwar in „normale“, d. h. überteuerte Wohnungen, wenn ihr Eigentümer – meistens eine Firma, die als Eigentümer schließlich nicht gezwungen werden darf, auf möglichen Profit zu verzichten – die Schmälerung seines möglichen Profits nicht mehr vom Staat ersetzt kriegt. Dann saniert die Firma hier und da herum, baut den einen oder anderen Duschtempel ein oder reißt das ganze Gelumpe ab und stellt einen neuen Luxusklotz dafür hin, in dem dann drei Viertel weniger Leute wohnen, die aber das Zehnfache an Miete blechen. Wieder fragt man sich: Wieso baut der Staat nicht gleich selber Häuser, anstatt unverschämten Firmen Geld zu schenken, damit sie das tun und ihm hinterher eine lange Nase drehen? Und wieder ahnt man die Antwort: Das kann er nicht, weil er nicht genug Geld hat. Das haben die Firmen, weil der Staat von ihnen keine Steuerzahlungen fordern will, damit sie nicht sauer werden.

So wird daraus eine Spirale und ein Wettlauf zwischen Hase und Igel, bei dem am einen Ende zehn neue Sozialwohnungen entstehen, während sich am anderen Ende zehn alte Sozialwohnungen in drei neue Luxuswohnungen verwandeln. Mittendrin stehen ganze Stadtteile voller grandioser Wohnungen leer, und am Rand sitzen ein paar Klugscheißer, die fordern, noch mehr Sozialwohnungen zu bauen, bis irgendwann der letzte Alpengipfel und die letzte niederbayerische Odelgrube mit Erzeugnissen des Wahnsinns, den man „postmoderne Architektur“ nennt, zugemüllt ist und der ADAC feststellt, daß im Ozean der Betonkisten nicht mehr genug Platz für neue Autobahnen ist.
Dann fällt möglicherweise mal jemandem ein Kanzlei- oder Agenturschild auf den Kopf, und er fängt das Denken an. Aber ehrlich: Hat das schon jemals was genützt?

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Die Folgen 1 bis 400 sind in vier Bänden als Buch erschienen.

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