Zu einer Jahreszeit, wo die Dächer von den Häusern schmelzen und sich der Homo sapiens mehrheitlich in Flüssen und unter Wasserfällen tummelt, damit es ihm nicht ähnlich ergeht, das vierte (oder – wir kommen noch darauf – erste) Ultravox-Album zu hören oder zu veröffentlichen, ist ungefähr so wie … Ultravox sein, sagen wir mal. Die haben das damals nämlich genauso getan, 35 Jahre und sechs Tage vor dieser Neuauflage, der ungefähr dritten, die wahrscheinlich (man weiß das im Post-Musikindustriezeitalter nie so genau) zu eben diesem Anlaß erscheint.
Und das war durchaus typisch Ultravox: antizyklisch, gegen alle Trends (und Jahreszeiten), zeitpunktmäßig heroisch daneben und zielstrebig in den Graben abseits der Moden und des großen Geschäfts. 1973/74 unter dem Namen Tiger Lily als Glamrockband gegründet (als Glamrock seit mindestens einem Jahr im Champagner-&-Koks-Kater höchstens noch dahinvegetierte), dümpelten sie ein gutes Jahr lang hinter der einzig noch mit Vollgas laufenden Schiffsschraube des Roxy-Music-Dampfers dahin, benannten sich ziemlich genialisch in Ultravox! um (mit dem Ausrufezeichen als Deutfinger in Richtung der damals enorm kultischen Deutschmotoriker und Kraftwerk-Ableger Neu!), ließen sich von Brian Eno und David Bowie entdecken und machten ein Debütalbum, das die Popwelt in ihren Grundfesten erschüttert und erneuert hätte – wenn es nicht gerade im tobenden Punksommer 1976 erschienen wäre.
So: bekamen es ein paar Leute mit, solitäre Außenseiter in der nebligen Randzone zwischen Prog (halbvergoren), Punk (noch frisch, aber mit Haut vom Aufkochen), Glam (madig) und einer eigenartig-obskuren Szene von theatralischen Kunst-New-Wave-Leuten, die – schon damals auf einem Nebengleis herumrangierend – heute samt und sonders vergessen sind (typisches Beispiel: die famosen Gloria Mundi).
Das zweite Album „Ha! Ha! Ha!“ warf den alten Ballast ab und definierte eine alternative, gloriose Version von Punk (nun offiziell „New Wave“ genannt), die ohne Zweifel den Planeten aus den Angeln gehoben hätte, wenn selbiger in seinem Sex-Pistols-Rausch irgendwas davon mitbekommen hätte: ein epochales, unvergänglich aktuelles Meisterwerk von Verzweiflung, Raserei, Melancholie und Wut; ein Grundstein, auf dem niemand etwas errichten wollte (oder konnte).
Die Band selbst auch nicht: Die ließ nun das „!“ weg und ihr etwas unentschlossenes Restmaterial auf „Systems Of Romance“ von dem Krautrockmagier Conny Plank bügeln (etwas glatt). Wieder kein Erfolg, kommerziell nicht mal unteres Mittelfeld. Das experimentierfreudige, aber wenig konsequente Label Island klappte die Kiste zu, Sänger John Foxx entschwand Richtung Elfenbeintürmchen, und die Früchte ernteten später andere (nicht zuletzt U2, übrigens).
Auftritt Midge Ure, noch so ein Mann zwischen den Stühlen, noch so ein Glam-Spätnachzügler (mit Slik), Punk-Nebendarsteller (mit den Rich Kids, nachdem er einen Job bei den Sex Pistols verbummelt und sich dafür deren Exbassisten Glen Matlock geholt hatte) und Enthusiast einer leicht pathetisch aufgeblasenen Version von Kraut-Elektronik und kontinentaleuropäischer Melancholie: Der übernahm den Laden, bastelte eine angekitschte lyrische Mittelstufenessenz von Foxx‘ enigmatischen Visionen, lud sie mit lastwagenweise Elektronik und dem musikalischen Äquivalent leerstehender römischer Säulentempel voll, saugte aus dem Ergebnis den verbliebenen Teig ab – und landete mit dem von der englischen Musikpresse eilig als „New Romantic“ etikettierten Ergebnis einen historischen Zufallsvolltreffer. Erste Andeutungen lieferte die Kooperation mit den Ultravox-Resten unter dem Namen Visage (mit „Blitz“-Clubchef Steve Strange als Galionsfigur), aber so richtig rund wurde die Sache erst (und nur) mit und auf „Vienna“.
Und auch das – kommerziell – nur durch viel Geduld: Im Sommer 1980 schipperten die neuen Ultravox mal wieder zielstrebig am Zeitgeist vorbei (der, angeführt von Bow Wow Wow und Adam & The Ants, mit Urwaldtrommeln durch die Großstadttäler zog). Erst die im tief verschneiten Januar 1981 erschienene gleichnamige Single – die ein witziger Schreiber später mit einem Zeichentrick-Nilpferd verglich („pompös, aber liebenswert“) – trampelte alle Türen nieder und verschaffte der fortan in Manierismus erstarrenden Band ein sicheres Auskommen für Jahre.
Und zwar zu Recht. „Vienna“ mag, im saftig brütenden Sommertreibhaus gehört, nach 35 Jahren immer noch so kalt, künstlich, kalkuliert, hohl und pathetisch klingen wie im Hochsommer 1980. Aber wartet nur den ersten novemberlich verregennebelten Sonntagnachmittag Ende August ab, und ihr werdet feststellen: Der Schein trügt, oder vielmehr: Der Trug scheint, majestätisch, strahlend grau, berauschend schön(lich).