Krach und Wahn (Popmusiktexte aus vielen Jahren) #1: Howler „World of Joy“ (2014)

Das Problem mit dem Rock ’n’ Roll besteht darin, daß er so leicht zu imitieren ist, weil die Zutaten so simpel sind: lauter Rhythmus, ein paar noch lautere Melodie- und Harmonieinstrumente, Stimme (die keinerlei fachlich zu bewertende Qualität haben muß) und eine unklare Attitüde von Zorn, Trotz, Verweigerung und Sehnsucht, die sich jeder Ergründung und Definition entzieht. Deshalb sind 99,9 Prozent aller Rock-’n’-Roll-Produkte (Bands, Songs, Konzerte, Tonträger) Imitationen, und 99,9 Prozent aller Musikkonsumenten ist das vollkommen egal, weil sie es nicht bemerken, weil man dafür eine Veranlagung braucht (die man auch als Behinderung verstehen könnte: als Unfähigkeit, etwas anzufangen mit perfekt produzierten Handelswaren, die anderen Menschen viel Freude bereiten), und wenn man es zu erklären versucht, stößt man auf Unverständnis und hat am Ende höchstens eine Authentizitätsdebatte am Hals, die auf die Nullsummenerkenntnis hinausläuft, daß es etwas „Echtes“ gar nicht geben kann.

So war das bei den Rolling Stones, den Sex Pistols, New York Dolls, Stone Roses, Libertines und Palma Violets, ein paar der ultrawenigen „echten“ Rock-’n’-Roll-Bands, und so ist es auch bei Howler, einem 2010 von vier Teenagern in Minneapolis gegründeten klassischen Quartett, von dem wohlmeinende Musikfachleute finden, daß es gelegentlich ein bißchen wie die frühen Strokes, Richard Hell & The Voidoids, Velvet Underground und eine pervertierte, durch den Lärmwolf gedrehte Entartung von Sixties-Psychedelik, Croon-Pop und Ramones-Punk klingt. Näher wagt sich kaum jemand heran, weil man berechtigterweise fürchtet, von dieser Band und ihrer Musik zersetzt, zerhackt, verdreht zu werden.

Auf dem ersten Album „America Give Up“ (2012) entstand aus einer vorgeblichen Retrohaltung (die gar nicht echt sein konnte, weil diese Burschen höchstens noch die Libertines in früher Kindheit erlebt haben) eine Atmosphäre purer, anschlußlos totaler Gegenwart; auf dem zweiten ist es ungefähr umgekehrt: Radikaler Futurismus gebiert eine unwirkliche, anderweltliche Version der Mittsechziger, die sich vom „Original“ auch dadurch unterscheidet, daß sie wesentlich härter, direkter und klüger ist – eine Art Popmusik für das 22. Jahrhundert, wie man sie sich 1967 erträumt haben könnte.

Die „Behinderung“ funktioniert auch anders herum: Einem Großteil der Menschheit wird diese Musik störend bis unerträglich, wüst, brutal, gefährlich, unzugänglich bis „falsch“ erscheinen. So wie das zumindest anfangs auch bei den Rolling Stones, Velvet Underground, Sex Pistols, New York Dolls, Libertines und Palma Violets war. Einer winzigen Minderheit wird sie das unwiderstehliche Gefühl einflößen, ein 19jähriger Straßenrabauke zu sein, und das Verlangen, auf der Stelle eine Band zu gründen.

Ähnlich wie bei den New York Dolls (mit denen Howler die Liebe zu Girlgroups wie den Shangri-Las teilen) enthielt das Debüt die Hits, nun kommen die extremeren Sachen, Experimente und Entgleisungen. Da aber beide Platten zusammen vorbildlicherweise nicht mal eine Stunde dauern, empfiehlt es sich, sie als ein Album zu betrachten und zu den erwähnten 0,01 Prozent zu zählen, auf denen einfach alles stimmt, jede Melodie, jeder Akkord und Break, jede Textzeile. „We belong to nothing and nothing belongs to us“: Dies ist weder Garagenrock noch Punk, weder Revival noch Trendsetting; es ist Rock ’n’ Roll – große, maßlos große Popmusik, so maßlos und groß, daß sie den Horizont verschlingt und die Welt zerstören wird. Aus rein romantischen Gründen: damit dieser Sommer ewig dauert.

geschrieben Anfang Mai 2014 für KONKRET

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