Ich habe heute meinen alten Kater beerdigt. Es war ein langes, langsames Sterben, das er hinter sich bringen mußte; und während ich das schreibe, wird mir wieder einmal klar, daß Sprache für gewisse Dinge in den Randbereichen der Welt nicht geeignet ist. Denn selbstverständlich hat er nichts hinter sich gebracht, weil er nicht mehr ist und deshalb auch nichts hinter sich haben kann. Eher hat etwas ihn hinter sich gebracht, aber auch dafür müßte er noch sein. Es ist gleich.
Es mag pietätlos wirken, aber während man am Sterbebett eines alten Katers sitzt und nichts tun kann außer warten, gehen einem mancherlei Dinge durch den Kopf, und da hat man auch mal wieder Zeit, die Zeitungen durchzublättern, die man sonst achtlos in den Müll wirft, weil einem das Gebrumsel und Gebrabbel der neoliberalen Journalistendarsteller den Nerv tötet und die gute Laune zersetzt.
So erreicht mich pfeilgrad eine Meldung von Bischof Tutu, von dem man lange nichts gehört hat, weil … na ja, wer will schon was von einem Bischof hören? Bischof Tutu jedenfalls, so wird gemeldet, habe „Sterbehilfe für Sterbenskranke“ befürwortet. Und da fällt mir pfeilgrad eine frühere Bekannte ein, die mir einst erklärt hat, man müsse Menschen, die nur noch nutzlos herumliegen, „abspritzen“ und sie werde sich, wenn sie eines Tages nur noch nutzlos herumliege, auf jeden Fall „abspritzen“ lassen. Ich kann mich an mein Entsetzen erinnern, und ich weiß noch, wie lange ich zu verstehen versucht habe, wieso ich so entsetzt war.
Ich hatte mit einigen Menschen zu tun, die gestorben sind, und habe einige Gespräche geführt, in denen es um das Sterbenwollen ging. Eine hochbetagte ehemalige Nachbarin, die dreimal zum Sterben im Krankenhaus war, meinte, man könne sich gar nicht vorstellen, wie schwer das sei, das Sterben. Dann hat sie tief geseufzt, ihre Einkaufstasche genommen und ist die Treppe hinaufgerumpelt wie eh und je, und eines Tages ist sie doch noch gestorben.
Ich bin der Ansicht, daß in der ganzen Erdgeschichte noch nie ein Lebewesen und auch kein Mensch sterben wollte; denn um etwas zu wollen, muß man wissen, was es ist, und das weiß niemand. Dennoch war noch nie so viel vom Sterbenwollen die Rede wie in den letzten Jahren. Das ist wahrscheinlich eine weitere düstere Blüte an dem üblen Strauch, auf dem auch die milliardenfache industrielle Tötung von Tieren (und ihre Entsorgung in Fastfoodmülltonnen), eine abgründig entfesselte kapitalistische Apparatemedizin, ein europaweiter Handel mit aus lebendigen Menschen herausgeschlachteten „Spenderorganen“ und diverse andere Dinge blühen, die sich ein Hieronymus Bosch kaum ausdenken hätte können – aber sicherlich wollen, denn was ihn und die Betrachter seiner Bilder so fasziniert(e), ist genau dies: die Scheu und der Horror vor dem, was Menschen (nicht selten durchaus guten Willens) einander antun können, und vor der letzten Grenze, dem gewaltsamen, unwiderruflichen Hinausbefördern aus der Welt, dessen Unwiderruflichkeit Religionen, Philosophien und Epidemien von esoterischem Firlefanz geboren hat, weil es der größte Skandal der Welt überhaupt ist.
Es weiß eben niemand. Die das Ende selbst herbeiführen, umwehte in meiner Vorstellung auch stets eine changierende Aura. Was könnte lächerlicher sein als der aufrechte Nazioffizier, den man mit einer Pistole und der Empfehlung, selbst die Konsequenzen aus seinem Scheitern zu ziehen, im Büro einschließt und der den blödsinnigen Befehl dann auch noch ausführt? Und ich erinnere mich, wie der große (und unlängst gestorbene) Horst Tomayer bei der Beerdigung eines gemeinsamen Freundes für Bestürzung und Empörung sorgte, indem er in seiner Grabrede stur darauf beharrte, wenn man Familie und Freunde habe, hänge man sich nicht an einen Baum; das tue man einfach nicht. Ich frage mich bis heute, ob er recht hatte und ob sich nicht darin das ganze Problem widerspiegelt: Ob es nicht, wo es um den Tod geht, immer um die Überlebenden geht? Weil die Toten ja nicht mehr sind und daher nichts mehr hinter sich, vor sich, neben sich und um sich haben?
Das gälte dann nicht nur für Abschied, Trauer, das geduldige Hinnehmen von Leid und Unausweichlichkeit und so weiter, sondern eben auch für die sogenannte Sterbehilfe, der man unterstellen könnte, sie sei darauf ausgerichtet, Unnützes schneller aus der Welt zu schaffen, nicht mehr Arbeitsfähige, die nutzlos herumliegen und die man aufwendig versorgen müßte, zu beseitigen. Das Perfideste an diesem Gedanken wäre, daß ähnlich wie beim Arbeitszwang, der heute längst kein Zwang mehr sein muß, weil ihn die meisten komplett verinnerlicht haben, die Verantwortung auf den einzelnen überginge: Das Bedürfnis, eingedenk der eigenen Nutzlosigkeit lieber sterben zu wollen, träte als ebenso dringender und „natürlicher“ Wunsch auf wie jener, sich in einer Fabrik oder einem Büro ausbeuten zu lassen, anstatt nutzlos herumzuliegen, wie es das eigentliche natürliche Bedürfnis sämtlicher vernünftigen Lebewesen ist.
Wenn sich die Euthanasie solcherart durch kapitalistischen Massendrill im individuellen Unterbewußtsein einnistet und jede dritte Plapperdiskussion um die Nazivokabel „lebenswert“ kreist (und eben deren Gegenteil: das, was nicht mehr „wert“ ist, zu leben), sollte man vielleicht mal wieder bedenken, daß das Leben kein Geschenk ist, das man zurückgeben kann, keine Episode, keine Krankheit, kein Ausflug, kein irgendwas, woneben es anderes gäbe. Sondern: das Einzige als solches.
Freilich kenne ich das Gegenargument: Man wolle Leiden verkürzen etc. Auch das überzeugt mich nicht. Niemand sollte leiden müssen. Dafür stellt die Natur (ob absichtlich oder aus Versehen) ein großes Arsenal an Betäubungs- und sonstigen Mitteln zur Verfügung, deren Gebrauch dem Menschen jedoch von Wirtschaftsmacht und Medizinindustrie verboten wird. Ein anderes Thema.
Mein Kater übrigens ist annähernd hundert Prozent seines Lebens nutzlos herumgelegen und hatte daran sichtlich Freude. Am Ende hatte er, immerhin, Geduld. Adios, mein Guter, Friede sei mit dir.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.