Frisch gepreßt #316: Oasis „Definitely Maybe (Deluxe Edition)“

Eine Seifenblase ist etwas sehr Schönes. Sie schimmert und leuchtet in schwimmenden, zerfließenden, silbrigen Farben, und je genauer man hinsieht, desto mehr glitzernde, bunte Details entdeckt man. Wenn die Sonne sich darin spiegelt, strahlt die Blase in zeitvergessenem Glanz, und der ganze Himmel leuchtet aus ihrer unendlichen Rundung. Der ganze Himmel. Vor beinahe zwanzig Jahren waren Oasis zwei Jahre lang eine Seifenblase; schon ihr Name ließ daran denken, zumal in einer Zeit, als Rockbands mit Vorliebe Gruntruck, Brainslaughter oder Scattergun hießen.

Ihre Singles hielten die Uhr der Welt an – time of our lives –; zwei Jahre lang waren Oasis mit einiger Sicherheit die größte Band des Universums. Dann, mit dem dritten Album, platzte die Blase. Übrig blieb ein kleiner Fleck Feuchtigkeit, weniger als von einer Träne bliebe. So geht das aber immer mit dem Rausch, den man nur wirklich genießen kann, wenn man nicht an die Folgen denkt und daran, dass er vorbeigehen wird.

Und daran dachte kein Mensch, als im April 1994 die erste Oasis-Single erschien. Sie hieß „Supersonic“ („mit Überschallgeschwindigkeit“), und der Titel war Programm. Dabei waren diese fünf Durchschnittstypen die denkbar unwahrscheinlichsten Popstars: Sie sahen aus wie ganz normale Heinis, die sich im Glasscherbenviertel am Zigarettenautomaten treffen, um ihre Mofas aufheulen zu lassen und sich gegenseitig zu erzählen, was sie alles machen täten, wenn. Ende der 80er als The Rain gegründet, rumpelten sie einige Zeit im Proberaum herum, ersetzten ihren aussichtslosen Sänger durch den großmäuligen Rabauken Liam Gallagher, benannten sich nach einer Konzerthalle in Swindon und holten schließlich, als gar nichts vorwärtsgehen wollte, Liams Bruder Noel dazu, der mit dem Anspruch kam, sie zu den neuen Beatles oder vielmehr den neuen Slade zu machen.

Dazu zimmerte er klassische Hitvorlagen zu vage vertrauten und doch irgendwie neuen Lärmbrettern zusammen, bedeckt mit einem Teppich von Dröhngitarren und überschallt von Liams unwiderstehlich desinteressierter Plärrstimme, einer Mischung aus Johnny Rotten und John Lennon, in die eine ganze Generation von biertrinkenden Sitzenbleibern, die sich für Fußball, Weiber und Prügeleien interessierten und keine Lust mehr hatten, sich von intellektuellen Pfeifenköpfen verarschen zu lassen, ihre sämtlichen Sehnsüchte projizieren konnte.

Dann war es, als hätte sich ein Vakuum geöffnet: Auf „Supersonic“ folgte „Shakermaker“ (so geschert geklaut, dass es auffiel und Noel 500.000 Dollar an die New Seekers überweisen musste), derselbe Krach in grün, und mit „Live Forever“ der erste Top-ten-Hit und die erste echte Hymne, bei der man am Horizont schon die Stadien sah. „Cigarettes And Alcohol“, „Whatever“ (für das diesmal sinnigerweise Neil Innes von der Beatles-Parodiegruppe The Rutles einen Haufen Geld und einen Autorencredit einklagte) … es wurde immer besser, größer, unverschämter. Oasis pfiffen auf alles, was an Anstandsregeln und sonstigem Kram im Weg stand, und sie hatten das Glück des Bankräubers, der nicht weiß, dass er seine Pistole vergessen hat, und deswegen so überzeugend wirkt, dass man ihm trotzdem den gesamten Geldbestand aushändigt und vor lauter Verblüffung nicht mal die Polizei holt.

Schon die Covers ihrer ersten Platten waren zufällige Meisterwerke: scheinbar rätselhafte, hyperrealistische Stillleben, in die jeder alles hineindeuten konnte, was er wollte, und in denen doch auch irgendwie die ganze Geschichte der Rockmusik enthalten und zugleich ausgelöscht war. Es mochte scheinen, als wären Oasis nicht nur die größte, sondern auch die erste, die einzige Rockband der Welt.

Die echten (musikalischen) Geniestreiche („Some Might Say“, „Wonderwall“, „Don’t Look Back In Anger“ usw.) folgten im Jahr darauf. Da war „Definitely Maybe“ längst ein Klassiker, das am schnellsten verkaufte Debütalbum aller Zeiten und die Nummer eins des größten Sommers, den britische „lads“ je erlebt hatten. Die Stadien tobten, die Zeit flog dahin, und zugleich schien sie stehenzubleiben, und die Seifenblase wuchs auf Globusgröße, was, wie jeder im Grunde weiß, nicht gutgehen kann. Aber wen kümmert das in einem solchen Moment, wenn der Himmel leuchtet, die Gitarren dröhnen und der Rausch reinhaut, als wäre man tatsächlich unsterblich?

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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