Frisch gepreßt #305: Billie Joe & Norah „Foreverly“

Daß es einen „Weihnachtsmann“, der irgendwie aus dem Amerikanischen herkäme, nicht gibt, ist so gut wie gesichert. Historisch-etymologischer Forschung des Instituts für galoppierenden Starksinn an der Freien Universität Schwabing zufolge geht die Benennung auf eine fehlerhafte mündliche Überlieferung des Wortes „Iron Man“ zurück (III. Transärmelkanalische Lautverschiebung), und der Kerl, der ab dem Spätsommer, wenn die Lebkuchenindustrie Vollzug meldet und ihre Erzeugnisse in die Kohlehydratabgabestellen der Unterschichtbezirke karrt, nächtens durch die Gegend streift und kleine Kinder schreckt, indem er mit seiner Rute wedelt und „Ho! Ho! Ho!“ grölt (ohne den historisch verbürgten Zusatz „Tschi-minh!“, der höchstens noch zu Zeiten von Grippeepidemien erklingt), – dieser zwielichtige Bursche ist natürlich niemand anderer als Ozzy Osbourne.

Jetzt kreucht Ozzy wieder da draußen rum, wenn der Sturm schneit und der Schnee stürmt, und krächzt, er wolle uns „fucking“ hören, aber darauf fallen wir nicht mehr rein. Nämlich haben uns Norah und Billie Joe (so herum gebietet’s die Höflichkeit, werte Plattenbenenner!) daran erinnert, was man tun kann, wenn ein knisterknackendes Holzofenfeuer, Zimtorangenduft, dampfender Glühwein und gelbwarmes Kerzenlicht nicht ausreichen, um die Welt zur heilsten von allen zu wandeln und den Ozzy zu bannen: eine ururalte Platte aus dem Regal ziehen, die so buttersüß und schlicht tönt, daß sogar die Verfilmung einer Atombombenexplosion mit solcher Vertonung zum hinreißend romantischen Idyll wird.

Das war damals durchaus nötig, 1958, weil da alle paar Monate irgendwo auf der Welt eine Atombombe explodierte und man auch ansonsten so wenig friedlich gesonnen war, daß in dem zehnjährigen Ozzy vielleicht schon Klagelieder über „War Pigs“ und die „Hand Of Doom“ herankeimten. Auch ungefähr zehn waren Phil und Don Everly in der kaum weniger grimmen Nachkriegszeit, als Papa Ike sein Liederbuch zur Hand nahm und ihnen zum Trost zwölf alte Volksweisen beibrachte, die sie 1958 auf dem trefflich betitelten Album „Songs Our Daddy Taught Us“ so tröstlich schön, entwaffnend nüchtern und demutsvoll herzig trällerten, dass daneben ein Elvis mit lautem „Flump!“ im Schmalzkessel versank.

Freilich ist das lange her, aber hat sich die Welt gebessert in den 55 Jahren, die uns in einer Zukunft versetzt haben, angesichts derer sich damalige Science-fiction-Autoren vor Verzweiflung entleibt hätten und in der Atombomben ein alter Hut sind, für den man sich nur noch in Nordkorea interessiert?

Nein. Und drum ist’s nur zu verständlich und löblich, wenn Billie Joe Armstrong (o ja, der von dieser Comic-Punkerl-Gruppe – man sollte niemanden unterschätzen!) und Norah Jones (o ja, die konsenssüße Grammysammlerin – man sollte auch niemanden überschätzen) bei einer gemeinsamen Singstunde mit Stevie Wonder auf die Idee kommen, Trost bei einer ururalten Everly-Platte zu suchen, die 14 bzw. 17 Jahre vor ihrem Sturz in diese Welt Atombomben mit Lametta behängte und den Menschen eine schimmernde Träne der Freudentrauer aufs Lid zauberte.

Denn es gibt einen Kitsch jenseits vom Kitsch: die „Überwindung des Leidens durch dessen Veräußerlichung“ (Ludwig Hohl) in reiner, schmuckloser Schönheit; es gibt einen Klang knapp neben der Stille; es gibt Lieder wie „Roving Gambler“, die mit einem einzigen Akkord alles über das Leben erzählen, und solche wie „Barbara Allen“, in deren wenige Zeilen die Ewigkeit der Liebe eingeschrieben ist und noch nach einer Million Interpretationen in (mindestens) 350 Jahren mit klarer Stimme aus ihnen spricht.

Und wer die singt, ist eigentlich egal. Das könnte auch Ozzy sein.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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