Frisch gepreßt #306: Haley Bonar „Wntr Snds“

Die Erdbeer-Gang, so benannt zu Ehren der bedauernswerten römischen Legionäre, die einst im Auftrag des Druiden Miraculix entsandt wurden, um zur absoluten Jahresunzeit Erdbeeren für einen vermeintlichen Zaubertrank zu erstehen, zieht Zwischenbilanz: Und wie (fast) immer ist es die der Erdbeer-Gang angemessenste Aufgabe, in den weiten Breiten zwischen Ural und Atacamawüste hörenswerte Musik zu entdecken, die zwischen 16. und 21. Dezember erscheint.

„So dumm“, erklärt der Marktexperte, „ist niemand. Ein nennenswerter Absatz ist so gut wie ausgeschlossen, da jedermann Geschenkboxen, Weihnachtsalben, Best-of-Ramsch und Lieblingsplatten der letzten vier Jahre in Deluxeausgaben für Neffen und Tanten ersteht.“

„Genau“, sagt der Zyklusforscher, „und wenn die Läden nach Weihnachten wieder öffnen, ist oder wäre das Zeug veraltet und könnte höchstens nächstes Jahr als Deluxeausgabe neu angeboten werden, was aber keinen Zweck hat, da es ja niemand kennt.“

„Und sowieso“, fügt der Verhaltensanthropologe hinzu, „verbringt der Mensch die ‚stillen Tage’ am liebsten damit, in Vergangenem zu kruschen und sich an Erinnerungen an musikumspülte Lebensmomente zu ergötzen. Wenn er nicht, wie der moderne Musikologe, ohnehin beide Ohren voll zu tun hat, um die Halden und Hekatomben an Zeug abzuarbeiten, das in den letzten Wochen in die Läden gestapelt wurde.“

Alle nicken einmütig, man serviert Glühwein und beschließt, die Ausnahmen unter „Kuriosa und Parerga“ abzulegen: B.o.B, Thomas D. und Beyoncé werden sich schon was gedacht haben.

„Moment mal“, gibt der Medienmodernist zu bedenken, „was heißt schon ‚erscheinen’? Und was heißt hier ‚Läden’? Wer geht denn noch in Läden? Macht der Internetversandhandel etwa Weihnachtsferien?“

Man winkt ab: Mehr Weihnachtsramsch als auf einer einzigen Amazon-Empfehlungsseite ist in der gesamten Nachkriegsgeschichte des deutschen Schallplattenhandels nicht zu finden. Müßig, das zu durchpflücken. Statt Erdbeeren wird man nur vertrocknete Marshmallows finden. Erneut: einmütiges Nicken. Der Glühwein köchelt. Zunächst bemerkt niemand die merkwürdig sanften, einfühlsamen, leicht verloren-melancholisch-fröhlichen Klänge, die durch den Raum perlen. Der Musikentdeckungsbeauftragte wird dann doch aufmerksam.

„Was ist denn das?“

„Was ist was?“ Man lauscht. Ein allgemeines „Oh!“, wohlig und wundersam entspannt.

„This year is new“, flüstert der Nischenarchäologe, dessen mildes Grinsen mehr ahnen läßt als es verrät. Und als das fragende Geschau übermächtig wird, erzählt er:

„‚Erscheinen’ ist, der weihnachtlichen Tradition entsprechend, ein Vorgang, der sich den gewohnten Mechanismen entzieht. Niemand suchte den Stern im Kaufhaus, den Messias in der Gebärstation, Weihrauch und Myrrhe im Gartencenter. Hier erklingt eine … nun ja, verlängerte EP mit sechs Liedern von Haley Bonar, einer inwendig wie äußerlich wundersam schönen Dame aus dem amerikanischen Westen, die fast niemand kennt, weil sie wie ein Schmetterling durch die US-New-Folk-Szene turbelt und flittert und kaum Spuren hinterläßt. Sie war mit der vielleicht leisesten Band der Welt auf Tour – Low, deren Gitarrist sie bei einem Songslam entdeckte, woraufhin sie anderntags die Schule schmiß, ihren Honda Civic mit Gitarren und einem Schlagzeuger belud und losfuhr –, hat Aufnahmen mit Freunden von Bon Iver, Ben Kweller und Andrew Bird (und diesem selbst) gemacht, einige mindere Preise eher verschämt verschwiegen und ist meist dann, wenn ihr Gesicht irgendeine Titelseite zierte, in eine neue Stadt gezogen, wo sie wieder fast niemand kennt. Wer eines ihrer vier („offiziellen“) Alben zufällig mal gehört hat, ist an einem leicht goldenen Schimmer und an einer gelassenen Nonchalance gegenüber fast allem anderen zu erkennen. Und weil Haley das gerne tut, hat sie ohne Anlaß und Produktbindung diese sechs Stücke aufgenommen, die auf ihrer Webseite zu finden sind, als ‚handgemachtes Geschenk’. Nebenbei spielt sie übrigens in einer Postpunk-New-Wave-Band und wird im Frühling sicherlich ein neues Album veröffentlichen, weil sie sozusagen der Frühling ist.“

„Ja hm“, sagt der Marktexperte, „ist das denn erlaubt?“

Hingebungsvoll lauscht die Erdbeer-Gang und wird sich einig: Es ist sogar absolut unerläßlich.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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