Junger Unfug (Folge 5) – Fernsehen und Väter

Die Familie des gleichaltrigen Jungen besaß – neben so ziemlich allen modernen Spielsachen, für die in Micky Maus und Prima Reklamefotos mit staunenden, glücklichen Kindern zu sehen waren – einen Fernseher, den es bei uns nicht gab, weil man vom Fernsehen verblödete. Wenn man es ertrug, daß der Vater die ganze Zeit bedrohlich auf dem Sofa saß, konnte man dort die interessantesten Dinge sehen: Der Geist und Mrs. Müller, S.R.I. und die unheimlichen Fälle, Time Tunnel, Merkwürdige Geschichten, Tarzan, Robin Hood und die Rebellion der Verlorenen in drei Teilen zum Beispiel.

Der gleichaltrige Junge sah daneben noch andere, weit mysteriösere Sachen: UFO, der Unsichtbare Dritte und vor allem Krimis, die es grundsätzlich erst nach acht gab. Da man fremde Wohnungen grundsätzlich lange vor acht zu verlassen hatte, kannte ich diese Sachen nur aus der Angeberei, die Jungs mit Fernsehereltern morgens vor der Schule verbreiteten. Da flogen Menschen durch den Weltraum, wurden ermordet oder ermordeten andere, nicht nur mit Messern und Schußwaffen, sondern auch mit den modernsten Laserkanonen, was mir grenzenlos exotisch und erstrebenswert erschien.

Geister gab es nachmittags auch, aber Geister waren etwas ganz Normales, was man auch aus Geschichten von den Eltern und Großeltern kannte. Nach Mord brauchte man die nicht fragen, davon hatten sie keine Ahnung.

Um nicht zu sehr an Ansehen einzubüßen, erzählte ich den Jungs mit den Fernsehereltern von noch viel grauenhafteren Sendungen, die nur ich gesehen hatte, mit Titeln wie Der Mann ohne Kopf und Das Ende der Welt, und die erst nach Sendeschluß liefen und daher nicht in den Programmheften abgedruckt seien. Das glaubte kaum einer, aber wenn man es oft genug wiederholte, wurden die anderen wenigstens unsicher, ob es nicht vielleicht doch wahr sein könnte. Vor allem wollten sie solche Filme unbedingt auch sehen, aber Fernsehen nach Sendeschluß war selbst in der Familie des gleichaltrigen Jungen undenkbar.

Trotzdem wäre das Fernsehen sehr schön gewesen, wenn nicht der Vater immer dabeigesessen wäre. Man durfte nicht lachen, sich nicht wild bewegen und auch ansonsten recht wenig. Sprechen nur in Ausnahmefällen, wenn einer was nicht verstanden hatte. Das war meistens der Vater: „Was? Was hat der jetzt zu dem da gesagt?“

Dann mußte man ihm kurz erklären, worum es ging, worauf er grunzte und wieder in die Polster fiel, nach seinem Bier griff und murmelte, man könne ja kein Wort mitkriegen, wenn dauernd die wildgewordenen Affen durchs Zimmer tollen. Gegenseitig durfte man sich nichts erklären oder fragen, zum Beispiel warum in den Filmen nie jemand aufs Klo gehen mußte, weil das blöde Fragen waren, die den Vater störten, der alle Kindersendungen aufmerksam verfolgte.

Diese Gewohnheit benutzte ich gelegentlich zaghaft als Argument, wenn es wieder mal darum ging, warum ich nach acht Uhr nicht auch mal zu dem gleichaltrigen Jungen durfte. Zunächst stritt ich kategorisch ab, daß wir dort nur vor dem Fernseher säßen. Das täten wir gar nicht, sondern spielen, und ich wäre auch gerne bereit, jedes einzelne unserer Spiele bei meiner Rückkehr aufzuzählen. Dann, ein Stückchen weiter in der Defensive, kam ich mit dem Vater: Der sei vernünftiger, weil er nicht Dinge verbiete, die er gar nicht kenne und also auch nicht beurteilen könne. Er sehe sich vielmehr alle Sendungen zunächst selbst an, beurteile sie auf ihre Schädlichkeit und erlaube nur die unschädlichen, Krimis zum Beispiel.

Wenn ich dann hoffte, meine Eltern überzeugt zu haben, und eine unbegründete, generelle Ablehnung meine Hoffnung wie einen Luftballon platzen ließ, brach ich zusammen, schloß meine Zimmertür sehr laut und schwor, so bald wie möglich zu meinen echten Eltern, den Indianern, zu fliehen.

Dabei weiß ich gar nicht, ob es Helmuts Vater überhaupt recht war, wenn ich in seiner Familie herumsaß. Er sagte eigentlich nie etwas zu mir, außer andeutungsweisen Verhaltensmaßregeln, bei denen mir vor Scham und Peinlichkeit immer ganz schummerig wurde.

Am wenigsten gefiel dem Vater unsere Gewohnheit, in den Aschentonnen nach brauchbaren Dingen zu suchen. Wir fanden Spielzeug, das jemand aus unerfindlichen Gründen kurz nach Weihnachten weggeworfen hatte, wir fanden alte Kleidungsstücke, wir fanden Zeitschriften. Alles, was uns nützlich erschien, trugen wir hinter einen Busch, der an das Nachbargrundstück grenzte und auf einer schmalen, mit Gras bewachsenen, kerzengeraden Anhöhe vor den Aschentonnen lag.

Dort schaute selten jemand nach, solange noch niemand wußte, womit wir unsere Zeit verbrachten. Wir saßen hinter dem Busch, betrachteten das Spielzeug und blätterten in Zeitschriften, die es zu Hause nicht gab. Manchmal regnete es, dann verwandelte sich unser ganzes Lager wieder in einen Haufen Müll, der dem Hausmeister die Haare zu Berge stehen ließ, besonders im Winter, wenn man den bunten, gefledderten und anscheinend herrenlosen Haufen schon aus einiger Entfernung durch den blätterlosen Busch sehen konnte.

(„Junger Unfug“ begann ungefähr 1996 mit der Idee, Erinnerungen aus meiner Kindheit aufzuschreiben und sie irgendwie motivisch zu etwas „Sinnvollem“ zu verbinden. Nachdem keiner der etwa hundert Verlage, denen ich Textauszüge und eine Beschreibung des „Projekts“ zuschickte, in irgendeiner Weise reagierte, erschienen die Texte auf einer längst gelöschten Webseite und blieben auf einer alten Festplatte liegen. 2018 oder 2019 fand ich sie wieder, schrieb ein bißchen weiter und vergaß die Sache erneut. Vielleicht kommt irgendwann der „richtige Zeitpunkt“. Vielleicht ist er jetzt. Ob ein Buch daraus wird, weiß ich noch nicht.)

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