Sprachnotizen (1): Die dümmste Welt aller Zeiten!

Die Menschen des Mittelalters hatten keine Sexualität. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß Friedrich Schiller in seinem ganzen Leben jemals das Wort „Information“ ausgesprochen hat. Falls er es tat, meinte er etwas vollkommen anderes als die Milliarden von Menschen, die den Begriff heute täglich bis stündlich und wahrscheinlich noch viel öfter in den Mund (oder die Augen) nehmen, ihn ausstoßen oder aufnehmen, ohne zu ahnen, was sie damit sagen (wollen) oder lesen (müssen). Schiller hätte mit Sicherheit nichts davon verstanden, möglicherweise aber erklären können, weshalb man das Gebrabbel nicht verstehen kann.

Goethe könnte das Wort benutzt haben. Zwar waren die beiden Zeitgenossen, aber Schiller starb 1805, Goethe lebte 27 Jahre weiter und war in seiner hochgestochenen Spracheitelkeit möglicherweise nicht unentzückt von der „Information“, die um das Jahr 1800 herum als sozusagen bildungsbürgerliches (sozusagen, weil es Bürger noch nicht wirklich gab) Modewort Einzug in den Jargon der hochgestochenen Spracheitlen hielt. Gemeint war in erster Linie das, was schon zu altrömischen Zeiten gemeint war: Unterrichtung (auch schulisch), Unterweisung, auch die gerichtliche Einholung von Zeugnissen und Belegen.

Das klingt harmlos im Vergleich zu dem Spiralnebel von astronomischen Ausmaßen, der heute um den Begriff herumwolkt und in dessen Zentrum ein schwarzes Loch der Nullbedeutung lautert. Aber schon dort ging durch die Abstraktion (Abziehung) eines Wortes aus mehreren Bedeutungsquellen einiges an Unterscheidbarkeit verloren. Hier darf man ruhig ein bißchen spekulieren und die „Unterrichtung“ (aus der der sozusagen dinglich gewordene Unterricht hervorging) neben die „Unterweisung“ stellen: Bei der einen wird etwas errichtet – ein Gerüst oder Fundament oder Fachwerk eines Gebäudes, das sich hernach Stockwerk um Stockwerk erweitern läßt und ein treffliches Zuhause (oder wenigstens Gehäuse) für ein gelungenes Leben bildet. Bei der anderen wird etwas gewiesen: ein Weg oder eine Richtung, den oder in die zu gehen dann Aufgabe des Unterwiesenen ist. Vielleicht erfährt er unterwegs eine Unterrichtung.

Wir sehen schon hier, wie Bilder aus dem Denken verschwinden: In der „Information“ ist weder ein Weg noch ein Haus zu erkennen, weder Gerüst noch Fingerzeig, weder Lehrer noch Schüler, weder Fachwerk noch Umweg. Später konnte „Information“ auch Auskunft, Mitteilung und Erfahrung meinen. Auch diese sind Abstrakta, jedoch mit spürbarem Gehalt: Die Auskunft wird („aktiv“) eingeholt, die Mitteilung („passiv“) erhalten, die Erfahrung muß man (in beiderlei Sinn) „machen“ oder genauer: er-fahren (auch ohne Auto, jedoch auto: „selbst“).

Heute ist in der „Information“ weder ein Vermittler noch ein Empfänger (Rezipient, neuerdings: Konsument) enthalten. Es handelt sich vielmehr um eine körperlose, sinnlose, inhaltlose, nur noch mit einem (vermuteten) Zweck behaftete Ware, deren Preis im Normalfall die Selbstentmündigung ist: Wer beispielsweise periodisch die Propaganda („Information“) öffentlicher Abgabestellen zu „Corona“, Krieg und „Klima“ konsumiert, wird vom Menschen über den Umweg der Person zum Informationsträger, dessen eigenes Leben nicht mehr existiert (vom Denken und Wollen zu schweigen), der vielmehr auf Basis des vermittelten „Codes“ funktioniert, ständig umwatscht von „Infos“.

So kam es, daß das Leben aus der Menschheit verschwand und wir in einer Welt leben, die (bestehend aus Informationsträgern) funktioniert und auf eine Weise, die den Menschen des Mittelalters magisch erschienen wäre, Geld erzeugt. Es ist eine Welt, die mehr „Information“ enthält und unablässig auskotzt, als es je gab. Es ist zugleich die dümmste Welt aller Zeiten. Vielleicht gehen Information und Dummheit auseinander hervor, wobei die Gesetze einer Art Entropie bestimmen, daß das Ausmaß der Dummheit ein kleines bißchen schneller zunimmt als die Menge der Information. So wie die leblos verstreichende Zeit ein kleines bißchen schneller zunimmt als die individuelle Lebenszeit. Das ist jedoch unerheblich; es ist nur ein sehr kleines bißchen. Und solange beides jeweils unablässig wächst, wird sich niemand beschweren.

Lustig ist übrigens das Nullwort „Informationsaustausch“, weil ein solcher nie und unter keinen Umständen stattfinden kann. Dazu müßte es möglich sein, zum Beispiel jemandem eine Mitteilung zu erstatten, diese dann sofort zu vergessen und von dem Empfänger wiederum eine Mitteilung zu erhalten, die dieser sofort vergißt. Im Normalfall verdoppelt sich die „Information“ durch ihre „Übermittlung“ (durch die sie sich strenggenommen verdreifacht, außer der „Mittler“ hält sich Augen und Ohren zu). Deswegen werden die „Informationen“ ja auch immer mehr, obwohl sie nichts mehr enthalten und nur noch Spiralnebel von astronomischen Ausmaßen sind, die alles vernebeln. Wußten Sie schon, daß die Quersumme von „Information“ 134 ist (kopfgerechnet)? Zählt man die Menge der „klassischen“ Elementarteilchen (Proton, Elektron, Neutron) hinzu, so ergibt sich die „kosmische Zahl“ 137, die von Wolfgang Pauli entdeckte Feinstrukturkonstante, die Quantentheorie und spezielle Relativitätstheorie verknüpft, ohne daß sich aus diesem Knoten bis heute etwas entwickelt hätte.

Wolfgang Pauli starb 1958 in Zimmer 137 des Rotkreuzkrankenhauses in Zürich. Hätten Schiller und Goethe sich geeinigt, so hätten sie trotzdem kein gemeinsames Sterbejahr erreicht. Pauli konnte also nicht 137 Jahre nach ihnen sterben, sondern mußte auf Gustav Johann von Buddenbrock ausweichen, der exakt 137 Jahre vor ihm ums Leben kam. Ebenfalls nicht 137 Jahre nach Goethe oder Schiller oder beiden starb Thomas Mann, der sich für Goethes Wiedergeburt hielt (Rechenfehler!) und „Buddenbrooks“ verfaßte (Schreibfehler!).

Goethe und Schiller wurden indes zusammengenommen 137 Jahre alt. All dies sind „Informationen“!

Wenn Schiller von „Entwicklung“ sprach, meinte er auch das bildhaft: Aufgewickelt wurde die Schriftrolle, die der Lesewillige deshalb zu entwickeln hatte, um sie sodann deuten und auslegen zu können. Erst um 1800 kam – wiederum im Bildungsjargon – eine neue Bedeutung hinzu: Nun entwickelte nicht mehr der Gelehrte einen Gedanken aufgrund vorliegender Schriften und Zeugnisse – ich hatte tatsächlich noch einen Professor, der uns Studenten, wenn wir besonders unverständig glotzten, freundlich sagte: „Ich will Ihnen das mal entwickeln!“ Vielmehr „entwickelten“ sich die Dinge nun von selbst und ohne interpretierendes Zutun: Aus dem Affen hatte sich der Mensch entwickelt (zunächst als Wickelkind, vermutlich), aus dem römischen Reich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation.

Und schon begann „sich“ plötzlich alles zu „entwickeln“, wie das geschieht, wenn sich die Begriffe von den Dingen und Bildern lösen, in anderem Zusammenhang zu Metaphern und nach dem Verblassen der Fremdherkunft zu allgemeingültigen, aber unverständlichen Phrasen werden. Goethe hätte dazu mit dem Abstand der Ironie bemerken können: „Eine interessante Entwicklung!“ Der längst verstorbene Schiller hätte ihn kaum verstanden. Man fände ja auch heute wenig Anklang, wenn man zum Beispiel einem Einwanderer aus Afrika erläutern wollte, er komme aus einem „Entrollungsland“. („Entrollung“ läßt sich übrigens als „Evolution“ ins Lateinische übersetzen, was den „Evolver“ und den „Evoluzzer“ nahelegt; das führt hier zu weit.)

Bis zu diesem (dem „Entwicklungsland“, das sich aus der Entwicklung der „Entwicklung“ in sozusagen exponentieller Abstraktion entwickelte) war es aber noch ein Weg, auf dem ein weiterer Schalter umzulegen war: Hatte sich nun also alles in der Welt und die Welt selbst in einer bildlich unvorstellbaren Kaskade der Offenbarung „entwickelt“, so stellte man irgendwann fest, daß selbst bei rasantester Entwicklung immer wieder neue Wickelungen ans Licht kamen, die man vorher offenbar übersehen hatte. Auch was längst entwickelt war, erwies sich als weiterhin verwickelt und entwickelte sich weiter!

Wer ein bisserl mit Hegel vertraut ist, findet daran nichts verwunderlich: Da ist halt eine These frisch in die Welt getreten (i. e. entwickelt), schon tritt ihr die unbemerkt entwickelte Antithese zur Seite, dann wird gerauft, und aus der Prügelei entwickelt sich die Synthese, die ihren „Syn“ indes bald verliert, wenn nämlich erneut eine Anti(syn)these daherkommt. So kann das ewig weitergehen. Oder hätte weitergehen können, wenn nicht schlaue Marxisten erkannt hätten, daß die Entwicklung irgendwann einen so paradiesischen Zustand logischerweise (weil ja alles immer besser wird, obwohl es immer schlechter wird) erreichen muß, daß eine Antithese höchstens noch Hitler oder Bill Gates ersinnen, sich aber nicht durchsetzen könnte.

Daher war zum Beispiel in der DDR von nichts so ausgiebig, ausführlich und ausufernd die Rede wie von der „Entwicklung“, die man allenthalben diagnostizierte und die immer nur ein Ziel kannte: die Perfektion, die durch unablässiges Bemühen der Arbeiterklasse (und der Bauern) früher oder später eintreten mußte (durch die Tür des Fortschritts; nein, das ist albern). Als „Entwicklung“ begriff man nun die gesamte Weltgeschichte, aus der sich die vollendete DDR herauswickeln mußte, um sodann den Rest der Welt auch noch auszuwickeln. Weil sonst wäre ja alles sinn- und zwecklos.

Zuvor hatte man der Historie einen Hergang und einen Fortgang oder Fortschritt attestiert, wobei letzterer aber auch nicht positiv konnotiert war: Es ging halt (aus dem Alten) her und ging oder schritt dann fort, das wirre Geschehen. Man nahm es wahr, fing irgendwann an, es aufzuzeichnen, und wunderte sich kaum über das Chaos. Hin und wieder registrierte man einen „Aufstieg“ beziehungsweise „Untergang“, aber ein Ziel war nicht erkennbar. Nun aber doch.

Das erwies sich als Irrtum: Die DDR ging unter, die „Entwicklung“ aber blieb, ohne daß man noch genau sagen hätte können, wohin sich die mittlerweile erfundenen „Entwicklungsländer“ denn „entwickeln“ würden – „entwickelte“ Länder predigten plötzlich das Ende genau jenes „Wachstums“, das man den „Entwicklungsländern“ weiterhin verordnete. Es war ein Wirrwarr, ein großes Wickeln, wie gesagt.

Ist es aber nicht mehr. Heute hat sich der Begriff der „Entwicklung“ nicht nur vom einstigen Darlegen und Aufzeigen so weit entfernt, daß davon nichts geblieben ist, sondern auch von der selbsttätigen „Entwicklung“ der Jahre 1800 bis 1990. Heute wird wieder („aktiv“) entwickelt – aber ohne daß zuvor irgend etwas aufgewickelt gewesen wäre. (Ein Rest des uralten Begriffs blieb übrigens – zweideutig – in der photographischen Entwicklung erhalten, für die ja der auf seine Rolle gewickelte Film zunächst buchstäblich entwickelt werden mußte; aber das dürfen wir als Curiosum vermerken.)

Heute nämlich „entwickelt“ man aktiv, indes ohne zu wissen, was herauskommen soll (weil alle bildlichen und sinnhaften Zusammenhänge verloren sind), weshalb stets nur Chaos, Katastrophen und Unheil herauskommen. Zum Beispiel liest ein beliebiger „Wirtschaftswissenschaftler“ (der ein solcher nicht ist, weil er nichts wissen will, sondern nur dogmatische Irrlehren nach aktueller Mode predigt) die „Daten“ einer beliebigen Entität (Firma, Land, Staat, was auch immer) und stellt fest: „Das werden wir entwickeln!“ Daraufhin werden in randomisierten Akten „kreativer Zerstörung“ gewachsene, geplante und eingeführte Strukturen zerschlagen, wolkige Begriffe in ungelesene Papiere gedruckt, dies und das „etabliert“ (wörtlich: verstaatlicht, was aber nicht ganz gemeint ist), dann bricht alles zusammen, der „Wissenschaftler“ wird durch einen Kollegen ersetzt, und der „entwickelt“ den Schrotthaufen dann von neuem.

Auch dies ist eine Wirkung einer Sprache, die nicht mehr beschreiben, nichts mehr sagen, nur noch nebulös allgemeine Formeln auf höchst diverse Vorgänge, Menschen, Geschehnisse, Phänomene, Dinge, Sachen, Gedanken, Ideen und was weiß ich noch alles aufstülpern, diese damit einklammern und imperativ zur „Entwicklung“ zwingen kann. Wen wundert es noch, daß jeder „Strukturwandel“ die gleiche modernistische Öde hinterläßt, jede „Erschließung“ eines „Wohngebiets“ in unbewohnbaren Betongebirgen endet? Auch das in seine Mulde gekauerte Bauernhaus ist eine „Struktur“, ebenso wie das königliche Lustschlößchen; und doch sind beide mit diesem Blödwort so wenig zu beschreiben wie die Wege dahin. Geht man aber vom Vorsatz der „Erstellung von Strukturen“ aus, so entstehen eben diese.

Ähnliches gilt für die „Intelligenz“: Die soll heute „künstlich“ neu erstehen, heißt es unter Anwendung der vielleicht dümmsten Verwechslung aller Zeiten – der von Denken mit Rechnen (neudeutsch: „Rechenleistung“). Gemeint ist ungefähr dies: Wenn man einen Taschenrechner dazu bringt, immer schneller immer mehr Rechnungen gleichzeitig auszuführen, so macht es irgendwann „blipp!“, und der Rechner ist plötzlich intelligent geworden und wird dann die Werke von Goethe und Schiller nicht nur in Windeseile nachschreiben, sondern erweitern und ergänzen. Wozu das gut sein soll, weiß niemand zu sagen. Könnte der Taschenrechner aus Gryphius’ Gedichten oder der Odyssee einen „Faust“, einen „Wallenstein“ oder die „Ästhetik??“ herausrechnen? Könnte er – anschaulicheres Beispiel für Zeitgenossen – auf die Eingabe des Gesamtkorpus der klassischen Musik hin ein Trompetensolo von Miles Davis „erstellen“, einen Beatles-Song oder gar den Mittelteil von „Holidays In The Sun“ (Sex Pistols)?

Daß „Klima“ oben in Gänsefüßchen stand, hat einen verwandten Grund. Was heute allgemein unter dem „Klima“ verstanden wird (das in gerader Linie mit „Wandel“, „Katastrophe“, „Schutz“ und „Rettung“ zusammenadoptiert wird), ähnelt dem Versuch, aus fünf gelben Karten in einem Spiel des TSV 1860 eine „Fußballkatastrophe“ abzuleiten, und der Forderung, durch eine leichte Bleichung der Karten „den Fußball“ zu „schützen“.

Weder Goethe noch Schiller noch irgendeiner ihrer Zeitgenossen hätte ein Wort von dem verstanden, was hierzu heutzutage („fachlich“) gebrabbelt wird. Vielleicht hätten sie verstanden, weshalb man den Schlamassel aus Plastikwörtern und gedankenlosem Ineinanderstapeln leerer Formelhülsen nicht verstehen kann. Vielleicht hätten sie den Protagonisten aber auch einfach einen Kreuzer in den Hut geworfen und ihnen gewünscht, daß sie nicht so bald in die Irrenanstalt einrücken müssen.

Ach so, und daß die Menschen des Mittelalters keine Sexualität hatten, liegt daran, daß es den Begriff damals nicht gab, also auch nichts, was man (in verdinglichter Form) „haben“ konnte. „Betrieben“ wurde das, was wir mit dem Leerwort als abstrakte Mechanik zusammenklammern, in weitaus mehrfältiger Form als heute, auch sprachlich.

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