Architektur & Verbrechen (eine fortlaufende Sammlung): Wo immer man sich befindet

„Die Stadt von morgen, die Nation von morgen, die Welt von morgen, danach wird kaum gefragt. All das bleibt zaghaft, recht konformistisch. Man kommt nicht über die Dringlichkeitslösung hinaus, wieder und wieder Wohnungen zu beschaffen, einen Bevölkerungsüberschuß zu verstauen und zu stapeln, der (nach dem Staunen unserer Regierenden und unserer Städteplaner zu schließen) plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht zu sein scheint und mit dem man nichts anzufangen weiß.“

„Nach dem gegenwärtigen Wachstumsrhythmus wird die Anzahl der Menschen in 600 Jahren derart groß sein, daß jeder nur noch einen Quadratmeter Erdoberfläche zur Verfügung haben wird. Das Dokument der UNO fügt hinzu: Irgend etwas wird geschehen müssen, das dies verhindert. Dieses Etwas kann der kollektive Selbstmord der Erde oder die Vernichtung von drei Viertel ihrer Bewohner durch einen Atomkrieg sein.“

„Die neuen Architekturformen werden vielfach in Forschungslaboratorien amerikanischer Universitäten entwickelt.“

„Wenn man bedenkt, daß wir nicht das bauen, was die Menschen wirklich möchten, und daß man sie eigentlich fragen müßte, was sie wünschen, ihnen statt dessen aber Lösungstypen aufnötigt, so ist das schandbare Demagogie.“

„Jedoch ist die Urbanitis eine Geißel, die nicht nur die Bewohner der neuen Städte befällt. Das Fehlen einer zeitgemäßen Stadtkonzeption ist dafür verantwortlich, daß sie alle Städter bedroht. Sie ist charakterisiert durch Störungen der Atmungsorgane, als Folge der Luftverschmutzung, durch Verdauungsstörungen infolge minderer Nahrungsmittelqualität, was zuviel Fleisch- und zuwenig Gemüseverzehr einschließt, ebenso die hastigen Mahlzeiten als Ursache von Magengeschwüren, durch nervöse Beschwerden, die vor allem aus Übermüdung entstehen als Folge zu häufiger und langer Verkehrswege, und durch Lärm, der den Stadtbewohner sogar im Schlaf attackiert. Wenn man die Schuld daran den neuen Städten zuschieb, so sollte man nie dabei vergessen, daß diese vergleichsweise ungemütlich wie gestärkte Kleider, die alten Städte aber Zwangsjacken sind.“

„Industrielles Bauen parallel zur Nationalisierung von Grund und Boden wird die Errichtung der Stadt von morgen gestatten. (…) Dank der Standardisierung der Wohnungen und deren industrieller Herstellung werden wir endlich über echte Wohnformen verfügen (und nicht nur über simple Schachteln, in denen man sich mehr schlecht als recht einrichten muß). Genauso wie man viele Motoren verkaufen muß, um gute machen zu können (die Forschung benötigt Mittel, die nur über große Stückzahlen amortisiert werden), müssen viele gleiche Wohnungen geliefert worden sein bis zur Erreichung der Idealwohnung.“

„Betrachten wir von weitem, was uns die ganze traditionelle städtebauliche Struktur zu verändern scheint, dann sind das nicht – wiederholen wir es – größere und höhere Städte, sondern das Bersten der Städte, der Bruch mit den gültigen Vorstellungen von der Stadt und dem Land, die gegenseitige Durchdringung von Stadt und Land.“

„Die Hausfrau, die nun nicht mehr Küchensklavin ist, kann dadurch an der Unterhaltung der Gäste teilnehmen und gleichzeitig die Zubereitung des Essens besorgen. Was die Kinder betrifft, so haben sie vom Tätigkeitsfeld der Eltern getrennte eigene Zimmer, was sie Selbständigkeit lehren soll.“

„Angenommen, alle notwendigen Geschäfte befänden sich in diesem Gebäude (…), wäre es also möglich, bei regelmäßigem Einkommen das ganze Leben in der Unité d`Habitation zu verbringen, ohne sie zu verlassen. Das Bedürfnis nach Luft und Sonne kann weitgehend auf der Dachterrasse befriedigt werden.“

„‚In unserer Epoche gibt es keine Spielgefährten mehr.‘ Und diese Feststellung führt uns zum Städtebau zurück, denn für Einzelfreizeitgestaltung braucht man keine Zentren mehr. Man kann dem Fernsehen zuschauen, wo immer man sich befindet.“

(Alle Zitate entstammen dem Buch „Wo leben wir morgen“ von Michel Ragon von 1963. Die deutsche Ausgabe erschien 1970 im Callwey-Verlag.)

Eine Antwort auf „Architektur & Verbrechen (eine fortlaufende Sammlung): Wo immer man sich befindet“

  1. die Lösung des Problems hat Charles Bukowski in der Kurzgeschichte „Gut 15 Zentimeter“ niedergeschrieben, eine umstrittene Variante dieser Geschichte ist auf meinem YT-Kanal als live-Lesung&Musik anhörbar. https://youtu.be/YykwWLjtQ7g
    Meine Lösung war abzuhauen. Ich habe heute 121 Samen von weißen Lupinen entlang meiner Grundstücksgrenze gepflanzt. Für jeden Samen ein kleines Loch…Dabei fiel mir etwas auf:
    Es gibt hier keine klare Grenze zwischen dem alten, toten Pflanzenmaterial und dem lebenden Boden. Selbst bei Makro-Zoom wird sich die nicht finden lassen.
    Wenn man diese quadrische und quadratische architektonische Scheisse auf den Bildern anschaut, dort auch noch leben muss, vergißt man so etwas.

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