Daß das Jahr mit guten Vorsätzen anfängt, hat so gut wie nie und nirgends etwas mit Erkenntnis, Einsicht und Vernunft zu tun. Zu so etwas – das zeigt die Weltgeschichte – ist der Mensch höchstens sehr punktuell fähig. Nein, das ganze „Nie wieder!“- und „Ab heute!“-Getue ist eine Folge dessen, womit das Jahr aufgehört hat.
Anfangen tut dieses Aufhören in unseren Breiten meistens schon im frühen Herbst, wenn die Wiesn als Vorwand dient, die Schranken und Zäune der Zivilisation einzureißen und sich so zu gebärden, wie das echte Schweine nicht mal dann tun, wenn man sie zur Fleischerzeugung massenweise in unbewohnbare Kästen aus Beton und Stahl zwängt und mit Chemikalien und pulverisierten Artgenossen mästet. Bezeichnenderweise kommt es bereits unmittelbar nach diesem „Volksfest“, wenn die Opfer noch gar nicht gezählt sind, zu ersten Wellen von guten Vorsätzen. Da schwört man, „nie wieder“ Starkbier und Fettpampe in sich hineinzustopfen, hinterher ins Taxi zu pinkeln, daheim die Ehefrau zu verprügeln oder mangels Taxi und Frau gleich in einer Mülltonne an der Hackerbrücke zu nächtigen.
Ein paar Tage später will man das zumindest nicht mehr „übertreiben“ oder halt nicht mehr „so“ übertreiben oder wenigstens nicht so bald, also nicht in den nächsten zwei Wochen, oder höchstens zu besonderen Anlässen … und dann rumpeln aber unmittelbar nach dem Oktoberfest (oder inzwischen auch schon mal davor) Megatonnen von Weihnachtssüßzeug in die Supermarktfilialen hinein, werden die Gänse, Puten, Karpfen und sonstigen zum kultischen Verzehr herangezüchteten Lebewesen langsam fett. Spätestens wenn die Biergärten nicht mehr so gut zur Exzeßüberbrückung taugen, lautet der Leitspruch, es sei jetzt „auch schon wurst“, und schließlich wäre es unhöflich (und karrieremäßig ungünstig), eine der zwei Dutzend Weihnachtsfeiern, die man im Vorfeld des „Fests“ zu absolvieren hat, zu schwänzen.
Bei diesen Anlässen muß man notgedrungen saufen, weil man die Menschen sonst nicht erträgt, und spachteln, weil man glaubt, dann vertrage man das Saufen besser. Zwangsläufig gerät dadurch die Selbsteinschätzung etwas aus der Balance. Man wähnt sich so unwiderstehlich charmant, daß man die süße Empfangssekretärin ruhig mal anflirten darf, zumal ihre Hakennase nach dem dritten Sekt deutlich geschrumpft ist. Geht nichts zusammen, kippt man halt noch ein paar Gläser, bestellt noch einen Gang Fettpampe, legt sich mit dem DJ an, weil er sich weigert, „Purple Rain“ zu spielen, oder ernennt sich selbst zum DJ und spielt das „Lied“ zehnmal hintereinander, patscht der Frau des Chefs beim Tanzen auf den Hintern und merkt da erst, daß man gar nicht mit der Frau, sondern mit dem Chef selbst tanzt, feuert die Empfangssekretärin an, die nach lautstarker Rezitation obszöner Witze in röhrendem Bariton und einem gescheiterten, aber dennoch mit mehreren Runden Applaus belohnten Kopfstand auf dem Fensterbrett inzwischen selber nicht mehr weiß, wie sie heißt, aufgrund eines unklaren „Spiels“ ihren BH verloren hat und fünf Mexikaner exen muß, schleppt sie zum Kotzen aufs Klo, kauert sich daneben und stellt das leider nur leicht unscharfe Selfie auf Facebook und Instagram.
Nachdem man sich mit drei doppelten Espressi wieder „wach“ gemacht hat, kommt man auf die originelle Idee, einem schlafenden Kollegen das Tischtuch unter dem Kopf wegzuziehen, auf dem zwar fünfzehn Gläser und diverse Teller stehen, was aber überhaupt kein Problem ist, wenn man schnell genug zieht, ha ha. Dabei gerät man aus dem Gleichgewicht, reißt den Kellner mit und stürzt samt Kleiderständer in irgendein Tohuwabohu, zieht sich eine blutende Kopfwunde zu, läßt sich von der Empfangssekretärin verarzten, „tanzt“ mit ihr noch dreimal zu „Purple Rain“, plumpst (ebenfalls mit ihr sowie einer halbvollen Flasche Wodka) ins Auto, fährt mit offenen Türen los und denkt nicht mehr daran, daß zu Hause eine Ehefrau wohnt, was aber egal ist, weil man sowieso den Weg nicht mehr findet, drei Wahlplakatständer umfährt und in Neubiberg in einem Gartenzaun landet, zu Fuß (ohne Schuhe, wo sind die nur?) vor der Polizei flüchtet und mal wieder in einer Mülltonne nächtigt.
Und so geht das weiter, in einem infernalischen Crescendo bis in den späten Dezember, wo dann auch noch die seit Jahrzehnten verfehdete Schwiegerverwandtschaft anrückt, sich drei Tage lang an wechselnden Tischen mit Megakalorien und Obstbränden zulötet und über Putin, Klimakinder, Sozialschmarotzer und die abwesende Tante aus Oberschwaben herzieht.
Weil man danach seltsamerweise immer noch ein bißchen am Leben ist, schleppt man zentnerweise Sprengmittel aus den Kaufhäusern, stellt in einer finalen Anstrengung inmitten einer tobenden Meute in einem dröhnenden Etablissement sämtliche zuvor aufgestellten Verzehrrekorde an Sekt, Schnaps, Bier und Freßzeug umgehend wieder ein, bombardiert in wabernden Giftgaswolken alles, was fleucht oder nur noch kreucht, gerät aus nicht rekonstruierbarem Anlaß in einen handgreiflich eskalierenden Streit mit drei oder vier unbekannten Passanten, den man mit einem schnellen Erstschlag ruckzuck beenden zu können glaubt, erwacht an einem strahlenden Neujahrsnachmittag in der Notaufnahme, liest mit steigendem Bluthochdruck die drei Dutzend SMS, die man irgendwelchen Geliebten aus Schule und Studium (sowie der Empfangssekretärin) geschickt und die irgendwelche angeblichen Ehemänner (sowie der Chef) beantwortet haben – und ist endlich reif für Einsicht, Vernunft und den Vorsatz, daß „so etwas“ (wovon einem nur noch ein paar Sequenzen einfallen, die man auf Youtube lieber nicht sehen möchte) nie wieder vorkommen und ab heute alles anders werde. Weil jetzt ein neues Jahr ist und so bla.
Aber keine Sorge: Ein Jahr ist immer nur ein Jahr, von dem man wenig weiß. Außer daß es mit großer Wahrscheinlichkeit ein Oktoberfest und eine Weihnachtszeit enthalten wird.