Der letzte der aufrechten Verlierer (ein Nachruf auf Joe Strummer)

Sommer 1976, ein Nachmittag auf der Londoner King’s Road: Drei junge (neunzehn, zwanzig, einundzwanzig) Burschen, frisch verpackt in die Punk-Mode des Tages, treffen einen etwas älteren Burschen (vierundzwanzig); man kommt ins Plaudern – “Hey, wir sind eine Band und suchen einen Sänger, willst du nicht mal vorbeikommen?” – und ein paar Tage später erlebt London (ohne es zu ahnen) die Geburtsstunde der größten Rock-‘n‘-Roll-Band aller Zeiten. Alte Geschichte, oft erzählt, auch von den Beteiligten selbst. Nur leider nicht wahr.

In Wirklichkeit ist der Ältere (Joe Strummer) eine Art lokale Berühmtheit: Sänger und (extrem rudimentärer) Rhythmusgitarrist bei der Anarcho-Hausbesetzer-Kommune The 101ers, die sich seit Jahren in der Tretmühle limitierter Kommerzialität kaputtspielt und, getragen von der Pubrock-Welle der mittleren Siebziger, gerade das erste Mal in einem richtigen Studio war, um eine echte Single aufzunehmen.

In Wirklichkeit ist Joe Strummer im Sommer 1976 ziemlich verzweifelt, denn er hat einst seinem Zimmerkumpan im Internat geschworen, daß er Popstar werden will, ist danach unter dem Namen Woody Mellor als Landstreicher durch England und Wales gezogen, hat sich als eine Art britischer Bob Dylan gefühlt und bei einem 101ers-Auftritt den Schock seines Lebens erlebt, als er die Vorband sah: die Sex Pistols. Da waren Joes gesamte Träume mit einem Schlag ein Haufen Mist; die Zukunft sah ganz anders aus.

Paul Simonon, Mick Jones und Keith Levine waren sein letzter Rettungsanker vor dem Abdriften ins vergessene Reich der überholten Altrocker. Und er traf sie nicht zufällig auf der King’s Road, sondern sie waren von ihrem Manager Bernie Rhodes „gebeten“ worden, sich die 101ers anzuschauen; Rhodes hatte ihn danach angerufen und ihm vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit gegeben: Wirf alles hin, vergiß deine Freunde, ändere dein Alter und fang ganz neu an, dann bist du dabei. Joe Strummer dachte nicht einmal zwei Stunden nach.

Eine andere Geschichte, Frühjahr 1982. The Clash haben inzwischen alle Tiefen des Musikgeschäfts durchkrochen, zwei einfache, ein Doppel- und ein Tripelalbum abgeliefert und stehen vor der Aufgabe, mit Nummer fünf wenigstens einen Teil der Schulden, die bei ihrer Plattenfirma aufgelaufen sind (man spricht von einer Dreiviertelmillion Pfund) wieder einzuspielen. Mick Jones rebelliert (weil das aufgenommene Material schon wieder für ein Doppelalbum reicht), Topper Headon ist vor lauter Heroin nicht ansprechbar. Die Platte, von Joe im Alleingang zusammengeschnitten, rollt im Eilverfahren in die Läden, während die vollkommen zerstrittene Band für die anstehende Tour probt, die leider nicht ausverkauft ist. Da meldet am 1. Mai der NME, daß Joe Strummer seit zehn Tagen verschwunden ist. Bernie Rhodes nützt die Gelegenheit, um das britische Publikum für seine Zurückhaltung beim Kauf der letzten Clash-Platten zu tadeln und zu verkünden, Joe sei wahrscheinlich in Klausur gegangen, um die Situation des „sozial engagierten Rock-Künstlers in der Kaugummi-Umwelt von heute“ (Originalzitat!) zu überdenken.

In Wirklichkeit kam die Idee von Rhodes selbst: Joe sollte für einige Zeit untertauchen, um das Interesse an der Band neu anzufachen. Er tat wie ihm geheißen, ging aber einen weiten Schritt zu weit: „Bernie sagte: ‚Geh nach Austin, Texas, quartier dich bei Joe Ely ein, und ruf mich jeden Morgen um 10 Uhr an'“, erzählte Joe sechs Jahre später in einem Radiointerview. „Ich sagte, okay, bis dann, aber dann fuhr ich nach Paris und dachte, es wäre ein guter Witz, wenn ich Bernie einfach gar nicht anrufe.“

Während Rhodes in London über seinem eigenen Scherz verzweifelte und ein entnervter Privatdetektiv vergeblich die Welt umreiste, hauste Joe in Paris bei einem Freund, zog durch die Cafés und nahm an einem Marathonlauf teil. Und unmittelbar nach seiner Rückkehr an einer Clash-„Betriebsversammlung“, bei der Topper Headon gefeuert wurde – wegen „Unzuverlässigkeit“; Topper heulte, bettelte, zertrümmerte Möbel – Joe blieb hart. Er bereute es für den Rest seines Lebens.

Es blieb nicht das letzte Mal, daß Joe sich in einer selbstgewählten Sackgasse fand und einfach die Koffer packte. 1978 hatte er gesagt: „Ich habe keinerlei Sinn für Verantwortung. Ich bin in der Lage, einfach so von der Erdoberfläche zu verschwinden.“ Zwei glatte Lügen, damals.

Zwischen diesen beiden Polen pendelte Joe Strummer sein ganzes (öffentliches) Leben lang hin und her: der Sehnsucht, ein Volksheld zu sein, der Millionen von Menschen mitreißt, ihnen sagt, wie das Leben und die Welt ist, und womöglich eine Revolution auslöst – ein Woody Guthrie des Punkrock mit dem Gesicht von Sancho Pansa. Und auf der anderen Seite der Diplomatensohn, der nichts lieber sein wollte als irgendein Kerl aus dem Pub nebenan. Der niemals einen Bodyguard in seiner Nähe akzeptierte, weder 1977, als Punkrocker in London zum Freiwild erklärt wurden (und nicht wenige mit schweren Verletzungen im Krankenhaus landeten), noch 1983, als The Clash im Vorprogramm von The Who durch amerikanische Stadien zogen und Millionen von Teenagern nichts lieber wollten, als Joe Strummer ein Stück aus dem Leib zu reißen, um es zu Hause übers Bett zu hängen. Joe Strummers Garderobentür blieb immer offen, für jeden.

Joes Problem war vielleicht seine Herkunft. Er war nicht einer von denen da unten, denen er später (in „Garageland“) die unsterblichen Zeilen widmete: „I don’t wanna hear about where the rich are going / I don’t want to go to where the rich are going / They think they’re so clever, they think they’re so right / But the truth is only known by guttersnipes.“ Joe war nicht in der Gosse, sondern in Ankara geboren und hatte ein relativ nobles Internat besucht. Er vernichtete seine Vergangenheit, verleugnete seine Familie, und als er merkte, was er sich damit angetan hatte, war es zu spät. 1985, als seine Tochter zur Welt kam, unternahm er einen Versuch, sich seiner Familie anzunähern, hatte plötzlich das Gefühl, seine Eltern nie gekannt, nie verstanden zu haben. Es war zu spät: Beide starben kurz darauf.

Man kann das Desaster des letzten Clash-Albums „Cut The Crap“ so erklären und sich wundern, daß alles nicht noch viel schlimmer kam. Kurz darauf verschwand Joe erneut, diesmal endgültig: Er saß in Spanien unter einer Palme und weinte, während Bernie Rhodes in London versuchte, einen neuen Sänger für eine neue The-Clash-Besetzung zu finden, die aller-allerletzte, die es dann gar nicht mehr gab.

An einem, wenn ich mich recht erinnere, mörderisch grauen Herbsttag 1977 habe ich zum ersten Mal Joe Strummers Stimme gehört, und während „White Riot“ aus dem wuchtigen Grundig-Weltempfänger schepperte, bekam ich auch zum ersten Mal eine Ahnung davon, wie aufregend, wie gefährlich, wie ungeheuer wichtig Rock ’n‘ Roll sein kann: Das war um Klassen wilder und mitreißender als selbst die ekstatischsten Momente der Glamrock-Helden meiner Kindheit, hatte mit den krummbuckeligen Hobbitereien der Prog-Rock-Jugend rein überhaupt nichts mehr zu tun, und vor allem verstand ich augenblicklich, was das war: die perfekte musikalische Umsetzung der realen Welt, wie ich sie als kleiner, uferlos gelangweilter und in meinen seltsamen Sehnsüchten einsamer Bub im betonierten Münchner „Glasscherbenviertel“ Giesing erlebte. Es dauerte eine Weile, bis ich mehr von Clash hörte, aber es dauerte noch viel, viel länger, bis ich auch nur einen einzigen Makel an ihrer Musik entdeckte.

Die Jahre 1977 bis 1979 waren eine Zeit, in der Rockmusik explosionsartig rasend wichtig und unwiderstehlich aufregend wurde, und wer durch Zufall in diesen Wirbelsturm hineingeraten war, hatte plötzlich so viele Helden, daß man selber kaum den Überblick behielt. Es gab viele Anwärter auf den ersten Platz in meinem Herzen, aber selbst Wire, die frühen Ultravox! und sogar die Sex Pistols konnten auf die Dauer The Clash nicht von ihrem Thron verdrängen. Joe Strummer erzählte mir alles, was ich von der Welt wissen wollte, und er erzählte es so, daß ich dieser Welt mit gestrecktem Mittelfinger entgegentreten konnte und wußte, daß ich recht hatte.

Es war keine Mehrheitsmeinung, die ich da vertrat, selbst innerhalb der mikroskopisch kleinen Münchner Punk-Keimzelle nicht. Die unglücklichen Freunde, die ich Nachmittage lang mit „Give Em Enough Rope“ quälte, wurden ihren Hardrock-Verdacht nicht los, und als im Dezember 1979 „London Calling“ erschien, riet mir gar mein einziger Verbündeter, der Verkäufer im Montanus, wortreich ab: Es sei „poppig“ und gänzlich unvertretbar, was auf dieser Platte passiere. Ich enttäuschte ihn, denn ich wollte mehr von Joe Strummers Stimme hören, und ich habe es nie bereut: Bis heute ist „London Calling“ eine der ganz wenigen Platten, von denen ich jede einzelne Zeile auswendig kann.

Ich bin Joe Strummer nicht immer blind gefolgt. Als meine damalige Freundin mir 1980 „Sandinista!“ zu Weihnachten schenkte und ich mich auf die unvorstellbaren Genüsse von eineinhalb „London Calling“ freute, saß ich ungefähr drei Stunden lang fassungslos auf dem Sofa, ehe ich so weit war, mir einzugestehen, daß diese Platte, von ein, zwei Songs abgesehen, unerträglich und unsagbar beschissen schlecht war. Das war aber nicht Joes Schuld, oder nur insofern, als er den bis zur Obergrenze mit Morphinen abgefüllten Topper Headon am Schlagzeug geduldet hatte, statt ihn in eine Klinik zu sperren. Als Topper rausflog, weil seine Heroinsucht geschäftsschädigend war, hatten in meinen Augen The Clash auch moralisch ihre weiße Weste in eine schmutzige Pfütze gelegt, um trockenen Fußes das Ufer des US-Millionenmarkts zu erreichen : „I believe in this and it’s been tested by research: he who fucks nuns, will later join the church.“ („Death Or Glory“)

Die kulturelle Ironie, die Mitte der siebziger Jahre mit dem ausgestreckten Mittelfinger der Punks begann und fünfundzwanzig Jahre später in den Schnöseleien einer blasierten „Postmoderne“ und einem ubiquitären „Was ist schon neu?“-Augenzwinkern gipfelte, blieb Joe Strummer zeit seines Lebens fremd. Er blieb jener Solitär, den der Amerikaner Jerediah Purdy in seinem 1999 erschienenen und mittlerweile zum Manifest einer neuen Ernsthaftigkeit avancierten Buch „Das Elend der Ironie“ beschreibt: ein Mensch, dem es nicht gelingen will und kann, seine Werte und Überzeugungen je nach Tageslage neu zu „definieren“. Dort, wo ein derart antimoderner Mensch sich widersprüchlich verhält und den eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird, gilt er, so Purdy, „nicht als ‚menschlich-allzumenschlich‘, sondern als Heuchler“.

Ob und wie sehr Joe Strummer unter dieser Einschätzung litt, läßt sich nur vermuten. Er konnte sowieso nicht anders, und langsam, ganz langsam ändert sich das Bild: In dem, was ihm so gegensätzliche „Nachgewachsene“ wie Bono und Nicky Wire (Manic Street Preachers) nachriefen, wird spürbar, wie wertvoll einer wie er war, dessen Ansprüche immer hoch genug waren, daß er selber, zumal als Akteur im Musikbusiness, drunter durchtaumeln geradezu mußte, und der sich dennoch nie „neu erfand“ und zur „Marke Ich“ gestaltete, um durch Anpassung an den heute geforderten Lebensstil der Selbstvermarktung die Früchte früher Mühen zu ernten.

Es wäre unfair, so zu tun, als wären Jones, Simonon, Chimes, Headon, Rhodes, Levine, Stevens niemand und The Clash auch ohne sie denkbar. „Cut The Crap“ beweist das Gegenteil. Trotzdem war Joe Strummer The Clash, und der ganze Balg aus Widerspruch, Triumph, Tragödie und unlösbarem Zwiespalt, als der The Clash in die Rock-Historie eingingen, war nichts anderes als die Geschichte seines Lebens. Einer der größten Clash-Songs ist eine Coverversion, eine Hymne, die jedem fühlenden Menschen das Herz zerspringen läßt und ihm das Gefühl gibt, für drei Minuten König der Welt zu sein. Aber der Refrain lautet: I fought the law, and the law won.

Am Ende blieb Joe Strummer selbst als Toter noch er selbst: kein Idol, kein Elvis, kein Sid Vicious, bloß eine Erinnerung. Noch nicht mal der Mann mit dem Song aus dem Levi’s-Spot, denn da hat er kaum mitgespielt – „Should I Stay Or Should I Go“ war eine Haßtirade gegen ihn, von Mick Jones, seinem kongenialen Todfeind, mit dem er sich ein paar Wochen vor seinem Tod endlich auf der Bühne versöhnte; immerhin das. Die lange ersehnte (oder befürchtete) Clash-Reunion schien in greifbarer Nähe. Hat also am Ende doch die Ironie gesiegt? Nein, es ist Joe Strummers Grundhaltung, die das letzte Wort hat: Du kannst nicht perfekt sein, du kannst nicht gewinnen, aber du mußt es versuchen, um jeden Preis, denn es gibt kein wahres Leben im Falschen.

Ich bin Joe Strummer nur ein einziges Mal begegnet, bei einem Konzert in London. Ich wollte ihm etwas sagen, aber er war zu betrunken, um mich zu verstehen, und antwortete irgend etwas, was ich nicht verstanden habe, weil ich zu betrunken war. Wir grinsten beide und gingen unserer Wege.

Er gehörte zu den Menschen, von denen ich unbewußt überzeugt war, sie würden einfach nicht sterben, nie, obwohl er in letzter Zeit oft sehr müde aussah. Jetzt ist er doch gestorben. Wenn man den Berichten trauen kann, hat er einen Herzinfarkt erlitten, während er mit seinem Hund spazierenging. Er schaffte es nach Hause, aber der Arzt kam zu spät, und Joe Strummer starb friedlich in seinem Bett. Erzählt mir noch mal was von den Helden und ihren Stiefeln.

Ich habe in den letzten Jahren so viel über The Clash geschrieben, daß ich das Wort „objektiv“ ganz bestimmt nicht zu hören kriege. Pah! Und wenn ihr euch alle auf den Kopf stellt: Die Songs von The Clash, die Stimme von Joe Strummer waren, sind und bleiben der Soundtrack meines Lebens und meiner Welt, für alle Zeiten.

Danke, Joe. Du wirst mir so sehr fehlen.

geschrieben Ende Dezember 2002 für den Musikexpress; und ich füge gerne hinzu, daß ich „Sandinista!“ inzwischen sehr großartig finde

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