München, meinte kürzlich (mal wieder) jemand zu meinen, – München sei lebenswert und solle das auch bleiben.
Vorsichtshalber fragte ich nach, ob er nicht vielleicht „liebenswert“ gesagt hatte. Schließlich war München dies wohl tatsächlich mal und ist es teil- und stellenweise immer noch, zumindest dort, wo das städtische Amt für die Durchsetzung der Profitinteressen von Immobilienspekulanten und Bauindustrie (kurz: Planungsreferat) noch nicht gewütet hat beziehungsweise wüten läßt.
Außerdem: Lieben kann man vieles, zum Beispiel die Geliebte, diverse Freunde und Verwandte, eventuell sogar ein Haus, eine Fernsehserie, ein Gewürz oder eine schöne Umgebung. Leben hingegen kann man die alle mit Sicherheit nicht. Leben kann man – mit drei zugedrückten Augen und einem Pfund Salz – eventuell das eigene Leben (wie es in einem fürchterlichen Schlager heißt), aber auch das Leben sollte man genau genommen wohl lieber führen oder noch besser genießen, weil man da wenigstens weiß, wie das geht. Hingegen einen Menschen, ein Gebäude, eine Stadt oder die Welt und das Universum insgesamt zu leben – das geht ganz sicher nicht.
Es kann demnach auch nichts und niemand wert sein oder durch vortreffliche Leistungen oder allgemeine Lebenswürdigkeit verdient haben, daß man ihn, sie oder es „lebt“.
Aber mit diesem Gedanken kommen wir der Sache immerhin ein bißchen näher. Nämlich meinten zum Beispiel einige Humanbiologen im tausendjährigen Reich der Deutschen, ein Mensch könne es verdienen, zu leben, und wer es nicht verdiene, zu leben, der sei folglich „lebensunwert“. Die Wortkonstruktion ist etwas ungelenk und schrammig und grundsätzlich falsch, aber das gilt für vieles, was die Deutschen damals und später so zusammenkonstruierten – selbst ihr eigenes Reich hielten sie ja wahrscheinlich eher für bewahrens- und ausdehnenswert als für bestehens- oder wachsenswert. (Und liebensunwürdig waren viele Deutsche damals übrigens im großen und ganzen auch.)
Aber ok, man sagte das halt nun mal so und teilte folglich Menschen und andere Wesenheiten ein: in solche, die lebenswert waren, und solche, die man bedenkenlos ausmerzen durfte.
So – würde der eingangs zitierte Meinende jetzt sicher meinen – so habe er das doch gar nicht gemeint! Das kann schon sein, sagen wir darauf. Es ist aber nun mal so, daß nicht der Meinende bestimmt, was das Wort bedeutet, in das er seine Meinung zu gießen wähnt. Sondern das bestimmt das Wort selbst. Wenn ich „fünf“ sage und damit „Baum“ meine, haben wir ein Problem. Im Englischen übrigens heißt beides – meinen und bedeuten – unter Umständen gleich (to mean). Meistens indes heißt meinen dort vermuten, und das ist kein Zufall; dies nur am Rande.
Aber zurück zur Stadt München, die es also angeblich verdient hat und weiterhin verdienen soll, nicht ausgemerzt zu werden. Wie und nach welchen Kriterien bemißt man das? Und wer entscheidet es? Und wie stellt man es an, eine lebensunwerte Stadt auszumerzen, wo doch der Einsatz von Bomben und Granaten dem Militär vorbehalten ist, das gängigem Brauch und Gesetz gemäß nur bei feindlichem Menschenmaterial und dessen Behausungen entscheidet und entscheiden darf, ob sie lebenswert sind oder nicht?
Tja, so geht das, wenn der eine irgendeinen Bullshit daher- (und allermeistens nach-) plappert und der andere das Geplapper ernst und für voll nimmt und nachzuvollziehen versucht: Man kommt, wie man so sagt, in den Schmarrn hinein.
Freilich weiß ich, was der Meinende mit der Blödvokabel „lebenswert“ eigentlich zu meinen glaubte: München sei es wert, darin zu leben. Da kommt aber das nächste Problem daher: Ein Urlaubsort oder meinetwegen eine geile „Location“ kann es möglicherweise wert sein, mal hinzufahren oder -gehen. Aber der Ort, an dem man lebt, wird erst durch das da-Leben zu dem Ort, an dem man lebt. Ein „Wert“ kommt da nicht ins Spiel, man lebt da, indem man da lebt. Das dauert ziemlich lang. Einen Ort (sozusagen) zu konsumieren ist das genaue Gegenteil davon. Vor allem aber kann man irgendwo leben nicht, indem man da mal hinzieht, ein paar Jahre lang das Angebot an „Optionen“ und so Zeugs auscheckt und dann per Bilanz überprüft, ob der Ort, an dem zu leben man noch gar nicht angefangen hat, es wert ist, da vielleicht irgendwann doch zu leben.
Erstens bildet, formt und verändert sich der Ort, an dem man lebt, weil und indem man da lebt. So wie das auch eine Wohnung oder ein Garten tut. Wenn man in eine Wohnung einzieht, dort alles, was man braucht, vorfindet und benützt und am Ende wieder auszieht und die Wohnung in etwas abgenutztem, aber ansonsten identischem Zustand hinterläßt, dann ist die Wohnung höchstens ein Hotel, und gelebt hat man da nicht.
Und zweitens: Kein Ort, an dem man nicht lebt, kann es „wert“ sein, dort zu leben. Sag ich einfach mal so. Und wer was anderes behauptet, der lebt halt wahrscheinlich auch wo und sollte das weiterhin tun, solange man ihn läßt.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt in fünf Bänden als Buch vor.