(Aus dem tiefen Archiv:) „See me, feel me, hear me, love me …“ (eine Erinnerung an den Soundtrack eines lange vergangenen Sommers)

Vielleicht sehen aus dem Abstand vieler gleichgültiger Jahre und wenn man sie allzu oft hervorzieht aus der Erinnerung – als zöge man Photoalben, die mit sinnlosen Anordnungen rechteckiger Schattierungen von braungelb und braunweiß und absurden Fondantfarben angefüllt sind, von denen man sich einbildet, sie seien Anker in der Vergangenheit, aus dem Regal –, alle Sommer so aus wie der Sommer 1978: sonnenbleich, durchwoben von zähen Fäden nicht verrinnender Zeit und pulsierend wie, meinetwegen, ein Herzmuskel.

Ich wurde damals fünfzehn und war nicht zum ersten Mal verknallt, aber irgendwie doch, selbst wenn es nur deshalb war, weil es einem immer wie das erste Mal vorkommt. Und es war das Debüt einer seltsamen Kombination aus dieser glühenden Empfindung, mit der nichts anzufangen war als verrückt zu werden, und einer bestimmten Musik, einer gewissen Melodie, die in dem Moment, als der milde Blitz einschlug, von gleichgültigen, unbeteiligten Händen zum Erklingen gebracht wurde und eine ewige Verbindung einging, wie ein prähistorischer Käfer, der zufällig des Weges krabbelte, als der Vulkan fand, es sei Zeit, sich zu ergießen, und die Form des Käfers für alle Zeiten in einer Skulptur der Vergeblichkeit festhielt.

Dies ist nicht originell, es passiert den meisten irgendwann; was meine Geschichte von vielen gleichen unterscheidet, ist das Lied, das da lief. In desperaten Momenten, die glücklicherweise lange vergangen sind, malte ich mir aus, gegen den Namenlosen, der es aufgelegt hatte, vorauseilend vorzugehen, mit Zwangsmaßnahmen das Erklingen dieser schrecklichen Tonaufnahme um jeden Preis zu verhindern: ihm (oder ihr? ich wage nicht, daran zu denken) die Hände auf den Rücken zu binden, die Schallplatte mit Hammer und Axt der Vernichtung zuzuführen … und wie oft habe ich, ohne ihn persönlich zu meinen, den Gott gelästert, der es uns Menschen unmöglich macht, uns in der Zeit zu bewegen wie im Raum, zurückzugehen in alte Zimmer und mit Besen, Schaufel, Staubsauger, Farbeimer und Pinsel aufzuräumen.

Denn es gab damals ja gute Musik und genug davon. Ich verbrachte meine Tage damit, sie zu hören. Aber es gab auch andere Menschen, und die hatten andere Vorstellungen, andere Wünsche, Neigungen, andere Arten, ihre Tage zu verbringen; und insgesamt hatte ich den Eindruck, daß es überhaupt niemanden gab, der seine Tage so verbrachte wie ich: weich umhüllt von einer elastischen Blase der Einsamkeit, die immer um mich war, wenn ich Straßen entlangging, in Wiesen lag, meinen Blick in den Himmel sinken ließ, zu Hause saß, Musik hörte, in Büchern blätterte und durch abstruse Alternativwelten schwebte, in denen ich dies und das wurde und war.

Oder wenn ich morgens kurz vor acht und in der Großen Pause gegen halb elf im Schulhaus herumging und mit mehr oder weniger verstohlenen Blicken die Mädchen betrachtete, die erst knapp zwei Jahre zuvor unter dem verschrobenen Motto „Koedukation” an unserer Schule Einzug gehalten hatten und daher allesamt ein Stück jünger waren als ich und sich entsprechend benahmen: hüpften, rannten, kicherten, zu dritt oder fünft untergehakt in ausholendem Gleichschritt durch die Gänge zogen und Signale aussandten, die mit großer Gewißheit etwas ganz anderes sagten und meinten als das, was ich in meiner wandelnden Wabe aus Realphantasie davon empfing.

Und auch das war einerlei, denn eine der wenigen Gewißheiten, die ich damals hatte, war diese: Es ist vollkommen und von Haus aus unmöglich und ausgeschlossen, mit diesen wimmelnden Wesen in Bekanntschaften einzutreten, sie in meine Welt hereinzuziehen und Einlaß in die ihre zu finden oder auch nur ein einziges Wort mit ihnen zu wechseln. Ich wäre, davon war ich überzeugt, bei dem bloßen Versuch auf der Stelle geplatzt vor Scham.

Und doch gab es gewisse “Nähen”; von ein paar der Mädchen wußte ich den Namen (das Ergebnis unsicherer Konjekturen und verstohlener Blicke in eine Liste beim Schulsportfest), und durch tägliche Begegnungen hatte sich über den tiefen Graben der Unnahbarkeit hinweg ein Art von einseitiger Vertrautheit eingestellt, die Präferenzen zuließ. Das Mädchen, das ich im Sommer 1978 am liebsten betrachtete, mit dem ich in Gedanken durch meine Welt zog (die in diesen Gedanken natürlich unsere war) und dem ich manchmal in meinem Tagebuch Briefe schrieb, hieß R. Sie hatte dunkles, langes Haar und unterschied sich von ihren Artgenossinnen durch die mürrische Art, mit der sie allem und jedem zu begegnen schien und die ich als verwandt mit meiner eigenen Haltung zur Welt und den Menschen empfand.

Sie rannte nicht, hüpfte nicht, schien von nichts begeistert und zeigte keinerlei Übermut. Sie wirkte weise, stolz, erwachsen, weltmüde und des wirren Treibens überdrüssig, was sie auch durch ihre leicht gebeugte Körperhaltung zum Ausdruck zu bringen schien. Was immer die anderen für einen Circus aufführten, sie stand unbewegt abseits, oft begleitet von immer derselben blonden Freundin, und verstrahlte die leicht gelangweilte Arroganz der Souveränität, die mich wahrscheinlich vor allem deshalb so faszinierte und mir so vertraut erschien, weil ich mir größte Mühe gab, ebenso zu wirken.

Für den vorletzten Schultag vor den Sommerferien hatte unser Direktor auf Drängen der “Schülermitverantwortung” (SMV) hin einen “Kulturtag” ausgerufen, an dem kein Unterricht stattfand und von dem ansonsten niemand so genau wußte, was er sollte. Im Grunde durfte jeder tun und lassen, was er mochte, solange seine Klasse irgendeine Form von Aktivität anmeldete, die in irgendeiner Form mit “Kultur” zu tun hatte: eine Vorführung rauchender Explosionen im Chemiesaal etwa, einen Flohmarkt oder ein Fußballspiel gegen die Lehrer.

Ich hatte damit nichts zu tun, und so konnte ich den ganzen Tag das tun, was ich am liebsten tat: still, schweigend und unauffällig meine Einsamkeitsblase durchs Schulhaus rollen und träumen.

Rs Klasse veranstaltete in ihrem Zimmer eine “Diskothek”, was bedeutete, daß dort auf einem tragbaren Kassettenrekorder Musik abgespielt wurde. Die Vorhänge waren zugezogen, dennoch war es hell, weil die Mittagssonne genügend Ritzen fand, durch die sie hereinkriechen konnte. Am hinteren Ende des Raums waren ein paar Mädchen aus der Klasse am Kichern und Tuscheln; am anderen Ende hatten sich einige von den Jungs eingefunden, die immer in irgendwelche Händel mit Mädchen verstrickt waren und die ich zutiefst verabscheute, weil in ihrem oberflächlichen Getue kein Platz für die Schüchternheit war, die mich von den Zehen bis zu den Haarwurzeln vollständig ausfüllte.

Die Mädchen tuschelten und kicherten also, die Jungs taten cool, lehnten an der Wand, schubsten sich herum, und immer mal wieder kam jemand aus dem Zimmer heraus, das ich selbstverständlich nicht zu betreten wagte. Ich wagte noch nicht einmal einen richtigen Blick, schlenderte nur immer wieder “zufällig” vorbei, verhüllte meine brennende Sehnsucht, an dem nichtigen Geschehen teilzunehmen, mit lässig gemeinter Abschätzigkeit und stellte fest, daß die Musik, die dort lief, genau meinen Erwartungen entsprach. Nicht die Sex Pistols, Stranglers, Ultravox, Clash, Damned, Television, Eddie & The Hot Rods, noch nicht einmal Pink Floyd, Deep Purple, Supertramp und Kansas entschallten der offenstehenden Tür, sondern der unwerte Dreck aus den aktuellen Hitparaden, die Gebrauchsgeräusche, die nicht in “Club 16” liefen, die selbst Thomas Gottschalk in “Pop nach acht” nicht freiwillig, sondern nur auf Geheiß einer bösartigen Produzentenmafia als Füllmaterial zwischen AC/DC und Queen laufen ließ und die in meinen Augen und Ohren keine Musik waren, sondern ebenso primitiv wie absichtsvoll fabriziertes Manipulationszeug zur Herbeiführung unwürdiger Kuppelungen zwischen den Geschlechtern; allerbestenfalls drittklassiger Ersatzpop, allerschlimmstenfalls die fürchterlichste aller akustischen Heimsuchungen: Discosound.

Ich verachtete nichts so sehr wie das: die Reggae-Vergewaltigung “Rivers Of Babylon” von Boney M., das zickige Gekiekse “You’re The One That I Want” von John Travolta und Olivia Newton-John, Gerry Raffertys honigsüßes “Baker Street”, Gefühlssurrogate von Marionetten wie La Bionda (“One For Me, One For You”) und Louisa Fernandez (“Lay Love On You”), Smokies pseudokneipenseliges “Oh Carol”, die zur Schnulzenheulerin zusammenkastrierte Ex-Glamlederlady Suzi Quatro (“If You Can’t Give Me Love”), Amanda Lear, “Santa Maria”, Benny, Eruption, Goldie, die Bee Gees, selbst den zweifellos “nachdenklichen” und “ernsthaften” Betroffenheitsschlager “Hiroshima” von Wishful Thinking; und es machte mich weniger froh als daß ich es als selbstverständlich hinnahm, daß R sich von solchen Vorgängen ebenso fernhielt wie ich (wenn auch aus anderen Gründen).

Dennoch konnte ich nicht verhindern, daß die Veranstaltung “Diskothek Klasse 6b” eine merkwürdige, obszöne Faszination auf mich ausübte, die mich zwang, immer wieder an dem Zimmer vorbeizuschlendern, auch mal in Begleitung eines Freundes, mit dem ich despektierliche Bemerkungen austauschte über die lächerliche Beschallung, die die ahnungslosen Kinder da über sich ergehen ließen. Da war es schon ein Uhr, mithin die sechste Stunde vorbei; der “Kulturtag” näherte sich seinem Ende, und in der “Diskothek” hielt sich kaum noch jemand auf, wie ich mit einem meiner verstohlenen Blicke feststellte.

Gerade wollte ich eine weitere sarkastische Anmerkung an den Freund richten, als mich ein glühender Schock durchfuhr: Das Mädchen, das da zwischen den Resten der beiden Gruppen an einem Tisch beim Fenster lehnte und gelangweilt mit einer blonden Freundin plauderte, war R, und sie wirkte zwar gelangweilt, aber gar nicht so unamüsiert, wie ich das – gesetzt den Fall, ich hätte ihren Aufenthalt in einem solchen Milieu für möglich gehalten – erwartet hätte. Der Freund verabschiedete sich in den Nachmittag, kopfschüttelnd; ich blieb zurück, mit einer schlecht gespielten Kombination aus Schulterzucken und ironisch-masochistischem Lächeln.

Und dann stand ich da und lief hin und her und stand wieder da und wagte nicht mehr in das Zimmer zu schauen, denn mein vorheriger Blick hatte, ohne irgendwohin zu zielen, direkt in R Augen hineingetroffen und ihrer also auch in meine, und da hatte es mich derart plötzlich und mächtig hineingezogen, ja: -gerissen, daß ich für einen unendlich gedehnten Augenblick keine Beine, keine Arme, keinen Körper mehr hatte und mich losreißen mußte, um nicht zu verglühen in den ernsten, tiefbraunen Augen, die sich in meine Erinnerung einbrannten wie eine vergrößerte Photographie und alles um sich herum erschufen, so daß ich gar nicht mehr schauen mußte, um R zu sehen und eine schwere, warme, schicksalhafte Verbundenheit zu spüren, die mich ganz erfüllte.

Und da war ich verliebt, und in diesem seltsamen Zustand verbrachte ich eine, wie mir schien, endlose Zeit schwebend auf dem linoleumbelegten Gang vor dem Zimmer, in dem die saß, nach der ich mich verzehrte, in dem sicheren Wissen, daß ich nie in meinem Leben ein Wort mit ihr wechseln würde, weil jedes meiner möglichen Wörter gänzlich unwürdig war, ihre Zeit zu stehlen.

In Wirklichkeit stand ich da bloß ein paar Minuten, so lange nämlich, wie das Lied dauerte, das kurz vor dem Blick, mit dem ich mich verliebte und das Elend begann, begonnen hatte. Es war ein entsetzliches, abscheuliches, niveauloses, verachtenswürdiges Stück Dreck von einem Lied, eine rotzbillige, verlogene Disco-Retortenproduktion mit dem schreiblöden Titel “Automatic Lover”, in der es um eine Frau ging, die von einem Roboter gepimpert wird oder werden will oder soll – was weiß ich; ich wollte es nie wissen.

Wie fürchterlich das Lied ist, kann nur ermessen, wer es je gehört hat: das blecherne Gepömpel eines pathetischen Synthesizers, die idiotische Pseudomaschinenstimme des “Roboter”-Darstellers, die eintönige Melodie des unablässig wiederholten Refrains, vorgetragen von der watteweichen Säuselstimme eines talentlosen Studiohühnchens mit dem Plastiknamen Dee D. Jackson – “See me, feel me, hear me, love me, touch me”, hauchte und heuchelte sie; und ich weiß nicht, wie oft diese Zeile tatsächlich ertönte, da sie sich in meinem Kopf weiterdrehte und weiterdrehte und nach hundert Umdrehungen durch einen perversen Zaubertrick zu einer wirklichen Botschaft wurde. Ich war verloren.

Am Tag darauf endete die Schule, und wirklich begann nun der Sommer. Am dritten Ferientag sah ich R wieder, und auch diesmal war es ein Schock, ein vielleicht noch schlimmerer. Ich lief in der Badehose einen Holzsteg entlang, ein Eis in der Hand, dachte an dies und das und nichts und ließ meinen Blick beiläufig über die Kiesdünen schweifen, als mich derselbe Blick ein zweites Mal fing, aus gut hundert Metern Entfernung, wo sie dabei war, ihre Badesachen auszupacken und mit zwei Freundinnen zu reden.

Wiederum dauerte der Augenblick, in dem sie mir so nah war wie mein eigener Vanilleeisatem und der Rest der Welt verschwand wie in einem umgedrehten, nach außen wirbelnden Strudel, eine mit keinem Maß zu bestimmende momentane Ewigkeit. Wieder glühte ich, und wieder reagierte ich, indem ich den ganzen folgenden Nachmittag lang ihre ungefähre Nähe suchte und mich zugleich verbarg.

Als sich die Sonne langsam, dick und ölig auf das Baummeer des Harlachinger Horizonts herabsinken ließ, setzte sich R auf eine der Betonfesten im Fluß, lehnte sich an einen der Stahlträger, auf denen der Steg ruhte, und ließ sich vom späten Licht wärmen. Da faßte ich mir ein Herz, setzte mich auf die Feste daneben und fühlte mich über einen Abstand von zehn oder zwölf Schritten durchs knietiefe Wasser dem Menschen, den ich liebte, so nah wie nie zuvor einem Menschen.

Und die ganze Zeit, seit ich sie vom Steg aus entdeckt hatte, spielte das höllische Gerät in meinem Kopf “Automatic Lover”, und den ganzen Nachmittag lang fürchtete ich, ich könnte mich hinreißen lassen, mitzusummen, gar laut zu singen. Ja, ich fürchtete, das ekle Lied sei womöglich auch ohne mein Zutun vernehmbar, einfach weil es so laut und aufdringlich in mir dröhnte, daß etwas davon nach außen dringen mußte.

Irgendwann sah ich aus dem Augenwinkel, daß R ihren Platz verließ und wegging. Wie gelähmt blieb ich sitzen, und wie eine Lawine rollte die Gewißheit, daß sie vergeblich auf ein Wort oder wenigstens ein Zeichen von mir gewartet hatte und nun überzeugt war, ich sei gänzlich desinteressiert, von meinem geschwollenen, immer noch von den zuckrigen Klängen erfüllten Kopf hinab in meine Eingeweide.

Die folgenden Tage verliefen nach einem einheitlichen Muster. Ich fügte mich in das seelische Exil eines nichtigen Ferienjobs und sprang, sobald die Arbeit beendet war, aufs Rad, um zum Badeplatz zu eilen. Dort, das wußte ich aus Erfahrung und Hoffnung, waren immer dieselben Leute anzutreffen, und ich schwor mir, ohne zu ahnen, wie ich diesen Schwur umsetzen sollte, die nächste Gelegenheit nicht so fahrlässig und dumm verstreichen zu lassen. Wenn ich R dort allein träfe, so lautete mein eiserner Vorsatz, würde daraus, und wenn ich es zwingen müßte, eine große, tiefe, romantische und ewige Beziehung entstehen.

Und tatsächlich waren da immer dieselben Leute, und ich war einer von ihnen, aber R nicht. Tag für Tag wurde der Sommer älter und schwerer; der August verstrich. Die Sonne sank früher, eine feine, anfangs nur zu ahnende Kühle, von gelegentlichen Gewittern schlagartig und unwiderruflich verstärkt, durchzog manchen Abend, und an jedem von ihnen radelte ich durch die verlassenen Flußauen nach Hause und prägte mir, ohne es zu wollen und zu wissen, alles ein, was ich sah, hörte und empfand: den Geruch der Wiesen, dessen blumig herber Süße sich langsam ein Aroma von Späte und Verfall beimischte, die bleiche Ferne der Farben im Abendlicht, das Dröhnen der nachglühenden Straßen, den langsam nachlassenden Druck der Luftglocke, die sich weitete, als wollte sie in blauschwarze Höhen entfliehen – und, selbstverständlich, die Endlosschleife von “Automatic Lover”, die nach wie vor in mir sich drehte und zog und nicht verfliegen wollte und die ich nur zu Hause – der Walkman wartete noch auf seine Erfindung – vertreiben konnte, indem ich den Kopfhörer aufsetzte und mich zwang, etwas anderes zu hören.

Aber spätnachts, wenn ich im Bett lag und ebenso halbherzig wie vergeblich versuchte, den Kitschfilm in meinem Kopf, in dem R und ich die Hauptrollen spielten, anzuhalten, um einschlafen zu können, lief sie wieder, gleichförmig und ewig. Ich war nicht zu retten.

Oder doch, natürlich. Der Herbst zog heran, die Schule fing wieder an, es regnete Tage und Wochen lang, und wieder stand und ging ich im Schulhaus herum und sammelte mit verstohlenen Blicken Bilder für mein Erinnerungsalbum, in das sich andere, neue Gesichter mischten. Neue Musik verband sich mit der Gegenwart zu neuen Erinnerungen, die jedoch vorläufig nie schwer genug wogen, um die verschwommene Sehnsucht nach dem verlorenen Sommer zu übertönen. Es war die reine Menge und die bildliche Wucht, die aus den Platten von Magazine, Suicide, Devo, den Boomtown Rats und anderen heraustönte, was die Verdrängung wirken ließ. Und dann kam ein neuer Frühling, und ein anderer Blitz schlug ein und ließ alles unwirklich erscheinen, was im Sommer 1978 geschehen und nicht geschehen war.

Jahre später habe ich R wirklich kennengelernt und festgestellt, daß ein großer Teil meiner Vorstellung von ihr zutraf: Sie war tatsächlich sehr verschlossen, wirkte meist mürrisch und mißmutig, und ich versuchte, mich an mein Gefühl zu erinnern. Doch es war November; die dampfenden Wiesen, das perlende Wasser, die zähe Zeit und das samten blendende Licht jenes Sommers ließen sich nicht heraufbeschwören. Wir unterhielten uns eine halbe Nacht lang über Nichtigkeiten, dann verloren wir uns für immer aus den Augen.

Aber noch heute gibt es gelegentlich Tage, an denen die Zeit plötzlich ihre Festigkeit verliert, an denen eine bestimmte Luft durch die Stadt weht und Ahnungen weckt und an denen ich dann nichts tun kann als alles liegen und stehen zu lassen, aufs Fahrrad zu springen und an den Fluß zu fahren, durch die Auen, den Geruch der Wiesen und Bäume und des Sonnenöls zu atmen, auf der Betonfeste unter dem Steg zu sitzen, in den leuchtenden Himmel zu starren und mir zu wünschen, da drüben säße R, damit wir gemeinsam lachen könnten über den Blödsinn der Welt und des Lebens, und lachen und lachen und lachen und endlich die Schleife in meinem Kopf, die sich an solchen Tagen immer noch dreht und “see me, feel me, hear me, love me, touch me” säuselt, für alle Zeiten zum Schweigen bringen.

geschrieben irgendwann im Jahr 2004 für ein Buch mit dem Titel „Soundtrack eines Sommers“

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