Belästigungen 12/2019: Der Pilz und seine „Gruppe“ und so (müßige Sommergedanken vom Rand der Demokratie)

Schwammerl sind lustige Zeitgenossen. Liegt irgendwo ein Stück Holz herum und wird für längere Zeit feucht, ploppen sie plötzlich auf, recken ihre fröhlichen Köpfchen dutzend- und hundertfach in den schattigen Tag, pulvern Sporen herum, daß es nur so raucht, und sind ein paar Tage später spurlos verschwunden.

Ihre Renitenz, ihr Eigensinn und ihre Widerständigkeit sind beispielhaft: Pflanzen sind sie nicht, Tiere irgendwie auch nicht (obwohl sich manche davon selbsttätig fortbewegen können). Einige kann man essen, andere entschieden nicht. Manchmal sind sie lieblich schön, manchmal abstoßend häßlich; einige verströmen einen urgründig-erotischen Wohlgeruch, andere stinken, daß es der Sau graust.

Man wird sie nicht los und kriegt sie nicht her: Die begehrtesten Sorten kann man nicht domestizieren und züchten; sie wachsen, wo und wann es ihnen gerade einfällt, ebenso wie die ganz und gar lästigen, die Bodenbretter und Obstbäume in Ruinen verwandeln. Andere gibt es im Supermarkt – die revanchieren sich für die Degradierung zur Ware, indem sie jeglichen Geschmack verlieren und dafür alle möglichen Schwermetalle einsammeln und anreichern, mit denen Autos und Menschen den Planeten zustauben.

Bei aller Lustigkeit hat das Getue, Gewese und Gehabe der Pilzbevölkerung auch etwas Unheimliches. Zum Beispiel weil sie so plötzlich und so massenhaft da auftauchen, wo man sie nie erwartet und sich schon gar nicht hin- bzw. hergewünscht hätte. Weil sie ziemlich schnell, unberechenbar, massiv und unaufhaltsam Sachen kaputtmachen, die man unbedingt noch braucht. Und weil sie selbst in Massen nur der winzige sichtbare Teil von etwas weitaus Größerem, manchmal geradezu titanisch Gewaltigem sind.

In dieser Hinsicht ähneln sie den fürchterlichen Wohn-, Arbeits- und insgesamt regelrecht Stadtmaschinen, die in letzter Zeit massenweise an bzw. in unbeobachteten Rändern und Nischen von München aufploppen, wie früher nur Monstren und außerirdische Invasoren in Horrorfilmen und heute die Flüchtlingsheere in der rechten Propaganda: Auch da verfällt Vertrautes und Gewohntes, Stilles und Altes, Schönes und Gutes, bis eines Tages nach einem kurzen Aufwallen von infernalischem Lärm (auf den die Schwammerln immerhin verzichten) plötzlich gesichtslose, gleichförmige, unheimliche, im einzelnen manchmal urkomische, im ganzen aber furchteinflößende Massen von Betonpilzen dastehen und unberechenbar auf den Betrachter und in die Landschaft glotzen (wenn es eine solche noch gibt).

Auch sie sind nur die sichtbaren Fruchtkörper von etwas viel Größerem: gigantischen Geldmassen, die sich durch jahrzehntelange steuerliche und gesamtwirtschaftliche Begünstigung und Förderung unter dem imaginären Dach von Immobilienkonzernen angereichert haben wie Blei und Kadmium in Champignons auf der Abraumhalde eines Uranerzbergwerks. (Die Konzerne nennt man übrigens heute gerne beschönigend „Gruppen“, weil das so harmlos und sympathisch klingt wie einst bei Baader-Meinhof, wo deswegen medienamtlich der Ersatzbegriff „Bande“ durchgesetzt wurde.)

Die Menschen, die dort (meist vorübergehend) untergebracht sind, die dort ausgebeutet und mit materiellem und virtuellem Konsumbrei gefüttert werden, die in den Kisten hocken und auf der Suche nach Ablenkung in den Schluchten zwischen den Klötzen herumirren, haben in ihrer Masse und Gleichförmigkeit auch etwas Pilzartiges.

Und hier wird es gefährlich, wie meistens, wenn der schweifende Blick von außen das Betrachtete über einen Kamm schert. Zumal es sich geradezu aufdrängt, den solcherart als Masse gesehenen Menschen Merkmale und Zubehör wie Individualität, Identität, Heimat oder auch nur ein Zuhause abzusprechen. Erstens weil man mit der Verwendung solcher Begriffe gerne selber in einen sehr unwirtlichen Sudtopf geworfen wird – und zwar den, in dem die Rechtsextremen sitzen, die im selben Atemzug von „Volk“, „Nation“ und „Deutschland“ und notfalls noch von Menschenrassen schwafeln (und das aber sowieso nur tun, um von dem abzulenken, worauf sie tatsächlich aus sind). Und zweitens, weil sich das so anhören könnte, als hätten diese Menschen gar kein Bedürfnis nach so was, weil sie durch genetische Evolution kosmopolitische und multikulturelle Ich-AGs geworden sind, die auf einem weltweiten Markt von Arbeits- und Freizeitangeboten herumschwirren und ihre jeweilige Aufenthaltsmetropole als Automaten betrachtet, der derartiges ausspuckt und aus dessen weltweit genormtem Sortiment sie sich herauspicken, was ihrer freien Willensentscheidung zusagt.

Beides halte ich für Unfug. Der Mensch ist weder mono- noch multikulturell, sondern wird das erst wenn man ihn (oder er sich) in eine Masse hineinschmeißt, die ihn manipuliert und nivelliert. Daß er nirgendwo hingehört, überall machtlos ist und sein Leben nur noch aus Arbeit und Konsum besteht, ist nicht seine Schuld, sondern das Ergebnis von Erziehung und Zwang. Und Zuhause, Heimat und Identität werden als Ideen, Konzepte und Wünsche erst und nur dann schädlich, schlimm, dumm und rechtsextrem, wenn man sie als Kampfbegriffe einsetzt, auf Massen, Nationen, mythische Lebensräume und sogenannte Völker bezieht und sie anderen – offensiv oder per definitionem – abspricht. Dann landet man beim wurzellosen ewigen Juden bzw. Flüchtling und dem wie eine tausendjährige Eiche in seinem Blutboden zwischen Maas, Memel, Verdun und Stalingrad verwachsenen Volksdeutschen. Und merkt nicht mal, wie „multikulturell“ und „kosmopolitisch“ es ist, einen Berchtesgadener Bergbauern und einen Matrosen aus Kiel (nur als zufällige Beispiele) als irgendwie identisch und einem „Volk“ zugehörig zu betrachten.

Es ist aber für das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von Freien, Gleichen und Gleichberechtigten (man könnte sagen: nach „Demokratie“), nach persönlicher Identität, politischer, sozialer und kultureller Teilhabe und Mitwirkung, nach Heimat und Zuhause vollkommen furzegal, wo einer herkommt, wie er aussieht, was er kann, mag und nicht ausstehen kann. Wichtig ist lediglich eines: Dieser Mensch ist, wo er ist. Und wenn er dort, wo er ist, zum machtlosen Sklaven und Experimentierobjekt gigantischer „Gruppen“ und/oder zum Molekül in der gleichförmigen Masse eines „Volks“ degradiert wird, wenn er in automatisch funktionierende Arbeits- und Wohnmaschinen gesteckt und bei der nächsten Gelegenheit in eine andere, weitgehend gleiche Arbeits- und Wohnmaschine am anderen Ende der Welt „verlagert“ wird, wo er wiederum gigantischen Konzernpilzen ausgeliefert ist und weder eine Ahnung von den Zusammenhängen noch irgendeine Möglichkeit hat, Einfluß zu nehmen, etwas zu bewirken oder gar zu verändern, dann ist er: nirgendwo.

Das unterscheidet ihn dann vom Schwammerl: Der bleibt, der kennt sich aus, der kann selbst den dicksten Stamm aus härtestem Holz zum Bröselhaufen zerschreddern, und wenn es sein muß, befällt er als kleiner Einzelpilz auch das gigantische Mycel eines scheinbar übermächtigen Artgenossen und floriert an dessen Untergang. Der braucht dafür noch nicht mal Begriffe, Schlagwörter und Parolen.

Vielleicht könnten wir, was Konzerne, „Gruppen“ und andere Ansammlungen von Geld und Macht betrifft, von den Pilzen etwas lernen. Ich weiß noch nicht genau, was und wie, aber es könnte zumindest nicht schaden, sich mal etwas eingehender mit ihnen zu befassen.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt in fünf Bänden als Buch vor.

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen