Belästigungen 7/2019: Warum man die „Schutzmacht der kleinen Leute“ höchstens mit dem Mittelfinger wählen kann

Ich hege keine sonderlichen Sympathien für die AfD. Ich mag Parteien sowieso nicht übermäßig. Ich finde Wirtschaftsfaschisten genauso schlimm wie Nationalfaschisten und am schlimmsten eine Organisation, die beides als Gesamtmisthaufen durch die Lande karrt.

Außerdem sind mir autoritär-elitär-hierarchische Menschenanhäufungen von Haus aus widerlich. Daß es sich bei der AfD um eine solche handelt – um einen von oben in die (politische) Landschaft hineingekoteten Haufen und nicht etwa um eine von unten gewachsene Bewegung – zeigen die Provenienz ihrer Gründer und Führer (ehemalige CDU/CSU/FDP-Viertelprominenz, rottender Altadel, herrisch-reaktionäre Dummköpfe aus dem Dunstnebel des neuen Geldadels, neoliberale Einpeitscher, bräsig-beleidigte Frührentner aus diversen Springer- und anderen Hetzredaktionen) und vor allem das Fußvolk, das an den Fersen dieser Kamarilla bappt.

Da sind mir ehrlich gesagt SPD-Fähnleinschwenker, grüne Joghurtdeckelsammler, selbst kreuzdumpfeste Söder-Fans lieber, weil gegen deren peinlichen Karneval (für den zumindest erstere beide gerne AfD-Aufmärsche zum Anlaß nehmen, weil ihnen sonst nichts einfällt) das Aufwallen der AfD-Horden selbst beim Verzicht auf Terror und körperliche Gewalt wirkt wie ein von einer enormen Überdosis Hülsenfrüchte gespeister Furz.

Aber dass die Leute, die diesen Haufen zumindest angeblich und wohl teilweise auch tatsächlich wählen, keine große Lust mehr haben, einen von den anderen zu wählen, von denen sie seit Jahrzehnten wissen, was sie von ihnen zu erwarten haben, ist auch nicht gänzlich unnachvollziehbar. Daß sie wählen müssen, weil das das einzige ist, was sie überhaupt zur Politik – das heißt: zum „Reformprozeß“ – beizutragen haben, hat man ihnen zur Genüge eingetrichtert.

Diese Leute sehen sich eine internationalisierten Elite gegenüber, die abgeklärt und ungreifbar überall und nirgends zugleich ist, die milde bis mahnend aus jeder Zeitungszeile, jeder Fernsehmeldung spricht (abgesehen von den lumpigen „Gesunder Rücken!“-„Mehr Rente!“-Straßenblättchen vielleicht), aber selbst kein Problem hat außer dem stetigen Wachstum der „Schlagzahl“ und ihrer Investments und nur wütend wird, wenn ein mittelamerikanisches Land, in dem ihre Befehlshaber noch nicht das Kommando haben, sich weigert, die von ihnen „anerkannte“ „Interimsregierung“ zu akzeptieren. Diese Kaste von „weltoffenen“ Elitisten schreinert dann zum Beispiel eine europäische Union zusammen, damit die „Schlagzahl“ noch schneller ansteigt und der Reichtum wuchert und die „Arbeitskraft“ effektiver dorthin verlagert werden kann, wo sie gerade gebraucht wird.

Eines der Propagandaversprechen dieser EU lautet: Jeder, der darin lebt, darf hinziehen und wohnen und arbeiten, wo er will. In der Realität heißt das (wie meist bei psychologischer Kriegsführung gegen ausgebeutete Massen) das Gegenteil: er muß. Und zwar da hin und dort, wo er am billigsten ist und wo es deswegen einen Job für ihn gibt.

An den Folgen der erzwungenen Arbeitsmigration dieser Binnen-Wirtschaftsflüchtlinge sieht man, was im Zweifelsfall wichtig(er) ist: das Ausbeuten oder die politische (Pseudo-)Teilhabe. Derzeit fristen etwa 14 Prozent aller Rumänen, elf Prozent aller Portugiesen, zehn Prozent aller Letten, Kroaten und Bulgaren im EU-„Ausland“ ihr karges Dasein. In Deutschland, Großbritannien, Österreich – eben da, wo das Geld sitzt, das sich durch ihre Ausbeutung vermehrt.

Das hat zur Folge, daß zum Beispiel bei der letzten Wahl zum Wiener Landtag (der immerhin für ein Drittel der österreichischen Gesamtbevölkerung zuständig ist) fast ein Drittel der dort lebenden Menschen im eigentlich wahlberechtigten Alter nicht wählen durfte (im 13. Bezirk waren es 40 Prozent).[1]

Ein ebenso lustiges Beispiel war der „Brexit“: Über den durften Briten, die seit mehr als 15 Jahren im Ausland leben, nicht abstimmen, weil davon auszugehen sei, daß sie keine besondere Bindung mehr an Großbritannien und die britische Sache haben. Andererseits durften EU-Bürger aus anderen Ländern, die seit mehr als 15 Jahren in Großbritannien leben, auch nicht abstimmen, weil … das eben keine Briten sind. Letztlich haben also die, die daheim bleiben (dürfen bzw. müssen) über die abgestimmt, die nicht mehr oder noch nicht lange genug daheim sind, und wie so was ausgeht, kann man sich denken: Da wählt man mit Trotz, Frust und gestrecktem Mittelfinger.

Ob Wien oder London (oder anderswo: Fragen Sie mal ihren türkischen Obsthändler, was er von Markus Söder hält): Mit Demokratie, wie man sie im Sozialkundeunterricht erläutert bekommt, hat all das wenig zu tun. Das EUropa dient ausschließlich dem Zweck, Konzernen und Kapital billiges Menschenmaterial zu liefern und diesem Arbeitsvieh den letzten noch verbliebenen politischen Einfluß zu entziehen. Kein Wunder, daß „Der Mittelstand“ uns anläßlich der anstehenden Europawahlfarce per Videopropaganda in U-Bahnhöfen zum „Bekennen“ befiehlt und dafür Millionensummen aus dem Fenster schmeißt, die er ansonsten für anständige Löhne ausgeben könnte oder müßte.

Und wenig Wunder, dass ein nicht geringer Teil der Abgehängten und Ausgebeuteten, die immerhin noch wählen, wenn schon sonst nichts mehr dürfen, ihr Kreuzchen ausgerechnet bei dem Haufen machen, der sie zwar noch mehr abzuhängen und auszubeuten trachtet als die meisten anderen, aber immerhin markiges Nationalfaschistengebell absondert und mit diesem führerischen Gehabe auf paradox-perverse Weise irgendwie „rebellisch“ und „ehrlich“ rüberkommt. Fragen Sie mal Ihren Geschichtslehrer, wie so was (massen-)psychologisch funktioniert.

Freilich: Diese „kleinen Leute“ könnten, wenn sie schon mal dürfen, auch die „Partei der kleinen Leute“ wählen. So nannte man früher mal die SPD, deren Ziel und Zweck es war, die Folgen der galoppierenden Ausbeutung und Verelendung durch „Reformen“ mit Trostpflästerchen und Stärkedemonstrationen ein bisschen abzumildern, damit es keinen Aufstand gibt. In den letzten 30 Jahren war es aber ausgerechnet die SPD, die die schlimmsten „Reformen“ durchpeitschte, von der Hartz-IV-Verelendung bis zum ersten deutschen Angriffskrieg seit Hitler.

Das, so hört man, soll jetzt anders werden. Nämlich hat die SPD beschlossen, wieder zur Partei, nein zur „Schutzmacht der kleinen Leute“ zu werden (schließlich leben wir im 21. Jahrhundert, da darf sich auch die Sprache ruhig ein bisserl militarisieren, und das mit der Partei hat die SPD ja schon oft behauptet – zuletzt 2013 –, das mit der „Schutzmacht“ immerhin erst 2016). Zu diesem Zweck will sie sich sogar „von Hartz IV verabschieden“ oder damit „brechen“. Und zwar mit einem „neuen Sozialstaat in einer neuen Zeit“, wie das entsprechende Arbeitspapier heißt, auf das die Schergen des Kapitals von Lindner bis „Wirtschaftsweisen“ auch gleich mit dem üblichen „Wer soll das bezahlen!“-Gegeifer reagierten.

Gelesen haben sie das Papier offenbar nicht.[2] Denn was will die SPD? Erst mal will sie: ein „Recht auf Arbeit“, und zwar egal wie sinnlos, blöd und erniedrigend die Schufterei ist. Aus dem „Recht“ wird auch gleich eine Pflicht, für deren Durchsetzung und Erzwingung die „Solidargemeinschaft“ zuständig ist: die soll sich „um jeden einzelnen kümmern“. Aber nicht etwa solidarisch dafür sorgen, dass jeder genug zum Leben hat und keiner was tun muß, was er nicht will und kann, nein nein. Sondern disziplinarisch: Arbeiten soll er, der einzelne! Und wenn einer nicht spurt, holt ihn die „Solidargemeinschaft“! (Außer er ist reich genug, um sein Leben in kontemplativem Müßiggang zu genießen, aber was geht das die „kleinen Leute“ an?)

Immerhin soll das Regime der Zwangsmaßnahmen und Strafen nicht mehr ganz so grausig walten wie das Schröder und seine Kamarilla einst durchsetzten: Die „Eingliederungsvereinbarung“ wird zur „Teilhabevereinbarung“, „Fördern und Fordern“ zu „Rechte und Pflichten“, „Hartz IV“ zum „Bürgergeld“, und „sinnwidrige und unwürdige Sanktionen gehören abgeschafft“. Wer entscheidet, welche das sind, und wie aus dem „gehören“ ein „werden“ wird – ja mei, das sehen wir dann schon. Zudem „werden wir kurzfristig die Formulare, Anträge und Bescheide überarbeiten und schrittweise durch schlanke, verständliche und transparente Lösungen vereinfachen“. Daß die SPD so was hinkriegt, zeigt schon dieser „Satz“. Aber damit nicht genug: „Sollte das nicht ausreichen, werden wir über die Einführung von Lotsen nachdenken, die den Betroffenen beim Ausfüllen der Formulare zur Seite stehen und sie durch den Prozeß der Antragstellung begleiten.“

So geht Politik für „kleine Leute“, so spricht eine „Schutzmacht“. Wen die schützt und wovor, ahnt selbst der größte Depp, und wenn man dem sagt, er solle diese Schutzmacht gefälligst wählen, dann wird er angesichts von derartigem Geschwätz sehr genau wissen, wie er antwortet: mit dem Mittelfinger. Und das finden dann wieder alle schlimm, und niemand fragt sich, wer daran eigentlich schuld ist.

[1]Diesen Hinweis (und den folgenden) verdanke ich Günter Hack („European Son“ in: Merkur 838, März 2019, S. 71-76).

[2]Dies tat zum Glück Kay Sokolowsky, dessen Artikel „Missing links“ in Konkret 4/2019 (S. 27 ff.) einiges von meinen Ausführungen vorwegnahm und wesentlich umfangreicher und detaillierter auf das SPD-„Arbeitspapier“ und seine tatsächliche Bedeutung einging.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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