Bisweilen kommen einem seltsame Erinnerungen in den Sinn. Zum Beispiel daß wir im anbrechenden Winter 1980, als der Himmel fahl und bleischwer und seit Wochen sonnenlos über Giesing hing und die leeren, von toten Baumgerippen gesäumten Straßen und Wege mit Wolkenstaub besalzt dalagen, in das wir einsame Stiefelspuren prägten, … daß wir da alle Piraten und Indianer werden wollten. Das ist erst mal nichts besonderes: Der Winter ist streng genommen Faschingszeit, und jedes Kind will irgendwann Pirat und/oder Indianer werden. Wir waren aber keine richtigen Kinder mehr, sondern fast erwachsen, und die Sache war keine Maskerade, sondern Ernst, Weltsicht und Manie, ausgelöst durch das Auftauchen der Band Bow Wow Wow, deren hysterisch überdrehte dreizehnjährige Sängerin Annabella Lwin das so ziemlich unwahrscheinlichste Role Model der hartgekochten Post-Punk-Generation wurde, das man sich nur vorstellen kann.
Wieso mir das einfällt? Weil mir beim Stöbern im Strandgut des Musiksommers 2018 die vor Monaten unbeachtet erschienene Box mit dem Gesamtwerk von Bow Wow Wow in die digitalen Finger gerutscht ist. Und weil der Winter oft seltsame Blüten (ausschließlich im übertragenen Sinne) treibt, was Musik angeht. Angemessener war damals sicherlich das, was wir kurz zuvor noch mit der gleichen Sturheit und Ausschließlichkeit gehört hatten: der depressionslastige Klangbeton des Post-Punk von Gang of Four bis Joy Division. Der schuf allerdings durch akute Überfütterung das dringende Bedürfnis nach dem absoluten Gegenteil, und das fanden wir in den erotisch flirrenden Südseetrommeleskapaden von Bow Wow Wow.
Und so geht das oft, und hier ein weiteres Beispiel, mit dem wir unserem Thema näherkommen: Einige Jahre zuvor war die Beschäftigung mit verstiegenem Prog-Rock obligatorisch, und zwar regelrecht akademisch. Da brachte man ganze Wintertage und -nächte damit zu, Soli von Rick Wakeman und Keith Emerson, Kompositionsstrukturen zwanzigminütiger Sinfonien von Yes, ELP und Genesis, assoziativ-akzidentale, mit metareligiösen Suchphantasien aufgeladene Lyrizismen von Jon Anderson und Peter Gabriel weniger zu genießen (das ging schon auch) als zu analysieren. Das damals erlösende Gegengift hieß Tangerine Dream und war tatsächlich das absolute Gegenteil: durch und durch synthetisch, körperlos fließend, schwebend, mäandernd, aus sich selbst und dem Nichts heraus entstehend und evolvierend, frei von Brüchen und menschlichen „Ideen“. Diese Musik verlieh dem Winter, in dem der Himmel fahl, bleischwer und sonnenlos über Giesing hing und die leeren, von toten Baumgerippen gesäumten Straßen und Wege mit Wolkenstaub besalzt dalagen, einen futuristischen Schimmer und leerte den Kopf so vollständig, daß er zum Universum wurde, jenseits von Zeit und Raum, substanzlos und ewig.
Damit schließt sich ein Kreis. Diesmal nämlich trifft der Winter auf ein Gemenge aus Sandbergen von Hip-Hop-Sinnflut, analytisch-reflexiver Arbeit an Beats und Reimsplittern und dem absichtsvoll aufdringlich dröhnenden Selbstsuche- und Melodieozean, den die Buzzcocks und ihr Anfang Dezember verstorbener Kopf Pete Shelley hinterließen (größtenteils kurz vor Bow Wow Wow übrigens). Das Bedürfnis nach dem Tangerine-Dream-Effekt, das daraus entsteht, wird irgendwann so dringend, daß das Album „On Reflection“ (der Titel ist in diesem Zusammenhang durchaus ironisch zu verstehen) wie ein Komet am Horizont erscheint.
Nicht sofort: Der eckig-sperrige Opener „Qprism“ ist eine Art Restmülltonne für die sublimierten Überbleibsel der menschgeistigen Bürokratie. Das Raumschiff startet mit „Dicker‘s Dream“, und spätestens nach zwei Minuten, wenn der stratosphärische Beat anschwillt, ist man der materiellen Welt so fern, daß „Ferne“ als Begriff selbst bedeutungslos geworden ist. Nach 8:37 ist man gänzlich drüben. Hin und wieder treiben dann gespenstische Fossilien unergründlicher Phänomene vorbei, die man bestaunt, während man weiterflirrt, lichtgeschwind und reglos. Am Ende öffnet sich ein Wurmloch, und plopp! ist man wieder hier und da, aber ein anderer.
Ach so, das Duo Selling (auch der Name ist in diesem Sinne ironisch zu verstehen) besteht aus Gold Panda und Jas Shaw von Simian Mobile Disco, was ihrem Album zweifellos (Techno/Elektro-)musikhistorische und kommerzielle Bedeutung verleiht, aber wen kümmert so etwas in solchen Momenten und Wintern?
Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.