Frisch gepreßt #431: Marylin Monroe „The Marilyn Monroe Collection 1949-62“

Ich hatte mal einen Freund, der war in gewisser Weise so typisch für das längst im Gentrifikationsbrei versunkene Viertel, in dem wir damals aufwuchsen, daß man eigentlich mal von ihm erzählen sollte. Auch weil die Zeit, in der wir am meisten Zeit miteinander verbrachten (oder sagen wir: vertrödelten), in einen Winter fiel, der diesem relativ ähnlich war: Es schneite, oft tagelang, die Tage waren grau wie die Betonfassade des Häuserblocks, in dem er mit seiner Mutter eine Eineinhalbzimmerwohnung bewohnte, und wir taten kaum mehr als auf leeren, verschneiten Straßen und in Hinterhöfen herumlaufen, uns manchmal gefährlichen, meistens verbotenen Unfug ausdenken und mit romantischem Sinn für die Unbewohnbarkeit der Welt, in der wir unser Leben fristen sollten, Sachen kaputtmachen.
Zwischendurch saßen wir bei ihm auf dem Klappsofa, tranken Tee oder warmes Bier (seine Mutter, die die meisten Tage im Bett verbrachte, hatte irgendwas mit dem Magen), besprachen wichtige Themen (sexueller Natur), von denen er meistens mehr wußte als ich (ich war zwölf, er war vierzehn und hatte wegen erwiesener Schwererziehbarkeit einige Zeit in einem gemischten Internat in Gars am Inn verbracht) und hörten Musik. Das heißt: Wir hörten seine einzige, im Kaufhaus KEPA geklaute Kassette, ein damals noch recht aktuelles Slade-Album, von dem ich mehr wußte als er. Er schwärmte derweil von seiner (angeblichen) Freundin im Internat und (weil darüber nicht viel mehr als zwei Sätze zu sagen waren, die indes auch bei der zehnten Wiederholung spannend blieben) von einer US-amerikanischen Schauspielerin und Sängerin, für die er eine unerklärliche Vorliebe hegte – unerklärlich vor allem deswegen, weil er sie nur von einem Photo und keinen ihrer Filme und Songs kannte (es gab weder Fernseher noch Plattenspieler, und im Radio hörten wir aus Prinzip nur „Club 16“, wo so etwas nicht gespielt wurde).
Später flog er ordnungsgemäß von der Schule (was ich dank Glück, Schüchternheit und guten Zufallsleistungen vermied), nahm viele Rauschmittel (weil er eingesehen hatte, daß man die unbewohnbare Welt nicht so gänzlich kaputtschlagen konnte, wie das nötig gewesen wäre) und verlegte seinen Hauptwohnsitz in den Englischen Garten. Jahre nach unserem letzten gemeinsam vertrödelten Nachmittag (ich sollte ihm helfen, die Nachprüfung zu bestehen, statt dessen spielten wir auf einem Betonviereck an der Forggenseestraße Fußball) liefen wir uns wieder über den Weg und sprachen, als uns die Geschichten (sexueller Natur) ausgingen, über die US-amerikanische Schauspielerin und Sängerin, deren Filme wir inzwischen hin und wieder gesehen hatten. Und ich verstand immer noch nicht, was er an der etwas biederen, schwarzweißen Tante mit Betonfrisur fand, die ihre angebliche Erotik unter Foltermiedern und Spießerkleidern versteckte und angeblich mal was mit einem noch viel biedereren Präsidenten gehabt hatte. Und sowieso längst tot war.
Jetzt, noch mal viele Jahre später, verstehe ich es. Weil jetzt wieder Winter ist, ein weicher, weißgrauer Winter, dessen dreivierteldunkle Tage man am besten damit verbringt, im Bett herumzuliegen, milde Rauschmittel zu nehmen (leichten Tee und schweren Wein) und sich mit schwarzweißen Filmen und nicht remasterbaren Aufnahmen längst vergangener Zeiten zu erinnern, die man nie erlebt hat. In denen ein biederer Präsident fast einen Atomkrieg angefangen hätte. In denen man Foltermieder vielleicht doch nicht ganz irrtümlich für erotisch hielt, ebenso wie eine Stimme, die die Seele so (scheinbar) unbeschwert streichelt, daß sie sich unschüchtern in den Unterleib kuschelt.
Dann hört man das pelzweich schwebende „Kiss“ und denkt nicht mehr daran, welch unerträglich zickiges Plastikgeschnalze ein anderer Künstler später diesem fundamentalen Vorgang widmete. Und das ebenso honigschmelzende „Do It Again“ (und denkt an etwas völlig anderes als das – zugegeben leicht melancholische – Fun-Gehopse, an das man bei dem gleichnamigen Beach-Boys-Song denkt). Und das zu Recht berühmte „I Wanna Be Loved“ (und denkt an Johnny Thunders, der das so leider nie singen konnte). Und 33 weitere, manchmal blödsinnig frohsinnige, oft traumhaft träumerische Songs (sowie den heute so nicht mehr denkbaren und deswegen legendären Geburtstagsgruß an den biederen Atomkriegspräsidenten).
Und dann denkt man auch nicht (mehr) daran, daß Norma Jean Baker alias Marilyn Monroe einen Großteil ihrer 36 Lebensjahre in einem von Glamour und obszönem Reichtum nicht zu dämpfenden, wenn nicht erzeugten Elend zubrachte, das wir damals bei aller Unbewohnbarkeit der Welt nicht kannten und das erst in heutigen neoliberalen Zeiten wieder Alltag geworden ist. Was ihrem Leben und ihrer Musik vielleicht eine Aktualität und Bedeutung verleiht, die wir erst noch ergründen müssen. Vielleicht tun wir das mal, alter Freund, wo immer du auch sein magst.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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