WM-Tagebuch 2006 – 11 Halbzeit in der Ferne

Freitag, 30. Juni 2006:

Der Zug geht früh, aber in der feuchten Morgenluft des Hauptbahnhofs schwitzen und klirren die Bierflaschen: Siegesschwüre im noch nachtklammen Nationaltrikot, strenge Zuversicht, Schulterklopfen – als wären es die schlaflosen Fanatiker, von denen alles abhängt. Den ersten Achtelfinaltag haben wir im Garten verdöst, nachdem der Trambahnfahrer „für fußballinteressierte Kollegen“ das zweite Tor gegen Schweden durchgesagt hat; da, wußten wir, würde sich nichts mehr tun, und für das argentinische Gewürge gegen Mexiko war nach einer Viertelstunde der Schlaf zu verführerisch.

In Berchtesgaden eine andere Welt: Zwar ist auch hier jedes vierte Auto schwarzrotgelb beflaggt, aber es gibt keinen Corso, keine nächtlichen Jubelbrigaden, kein „Public Viewing“. Die Jugendlichen in Hitlers Kehlsteinhaus tragen müde ihre „Böhse Onkelz“-, „Tote Hosen“- und „Gehaßt Verdammt Vergöttert“-T-Shirts durch die überraschend dünne Aura eines siebzig Jahre alten Weltmachtwillens, dessen groteske Anderweltlichkeit einem über blanke Zahlen bewußt wird: Zwölf Jahre hat das gedauert; der letzte deutsche WM-Sieg ist länger her, Jürgen Klinsmann war da schon dabei.

Abends im Pensionszimmer krabbeln winzige Strichmännchen über den Fernsehschirm, draußen erfrischt das Gewitter die schwül pulsierende Luftglocke und hängt dem Watzmann alle paar Minuten neue Kreationen auf den Leib. Für ein echtes Interesse ist alles zu klein: die portugiesisch-niederländischen Prügeleien, das erwartete Ausscheiden der Australier und Ghanaer gegen jeweils zwölf bis vierzehn Gegner, die zweistündige Spielverweigerung von Schweizern und Ukrainern, die gerechterweise mit einer Sperre beider Mannschaften geahndet werden müßte. Dann endlich spielfrei; zwei Tage lang steht der Fernseher im Hofbrauhaus als das herum, was er hier immer ist: ein Fremdkörper.

Ein letzter Morgen mit Blick auf das müßige Schafquintett, unsichtbare Lautsprecher erbrechen das widerwärtige Gequengel von X. Naidoo, in der Zeitung ist E. Stoiber zu sehen, in ein Deutschlandtrikot gezwängt. „Beste Werbung für unser Land“ sei die WM. Der Gedanke, daß der Kerl seine mentale Verfassung selbst immer am besten auf den Punkt bringt, ist schon ein Stück Abreise. Heimfahrt ins Fahnenmeer, die Wolken bleiben über Königs- und Chiemsee hängen, wieder schwitzen und klirren die Flaschen, und als dann das erwartete Elfmeterschießen endlich absolviert ist und die hupende und grölende Hysterie durch die Schwabinger Straßen rast, fühle ich eine absurde Sehnsucht: nach einem echten Fußballspiel.

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