WM-Tagebuch 2006 – 10 Zeit der Wespen, Zeit der Hubschrauber

Sonntag, 25. Juni 2006:

Das Gefühl, als wäre alles mögliche am Anschwellen; ein erinnertes Stimmungsbild von dem Sammelsurium auf der karierten Decke im Garten 1976: Frigeo-Puffreistüten, Perry-Rhodan-Taschenbücher, Donald-Duck-Sonderhefte aus einem verstaubten Flechtkorb im Speicher (der drückend schwüle Hitzegeruch von alten, stumm drohenden Wespennestern), das blecherne Gedudel von Yes, Kraan und Harlis aus dem Kassettenrecorder, abends die bebende Freudenspannung, als drei Tore von Dieter Müller aus einem 0:2 gegen Jugoslawien ein 4:2 machen, die entsetzten Schreie über Uli Hoeneß’ verschossenen Elfmeter gegen die CSSR, die die erwachsene Diskussionsrunde über Arbeit und menschliche Würde einen Augenblick innehalten lassen. Gelbe Wiesen, Wasserschläuche, sieben Wochen täglich hitzefrei, der tanzende Jubel auf der Straße über das endlich anrückende Gewitter, das ein paar Tropfen fallenläßt und weiterzieht, die lähmende und befreiende Stille in der Dampfglocke der glühenden Stadt, im bebenden Dunst von Lohe und Heide. Und dann kommt doch der Regen, mit einem Donnerschlag Mitte August, und hört nicht mehr auf bis zum Ende der Großen Ferien in neblig kühlem Frühherbst.

Dreißig Jahre später ein anderes Anschwellen; der einheitlich schwarz-rot-gelbe Farbteppich der Fahnen und Gesichtsbemalungen füllt die Lücken überraschungslos zwangsläufig, die deutsche Mannschaft gewinnt so mühelos technokratisch, daß man Ecuador und Schweden nicht mehr absitzen mag, lieber auf Argentinien oder gleich aufs Finale gegen Brasilien wartet. In den Zeitungen werden die affirmativen Beschwörungen eines guten, edlen, modernen, positiven, erfreulichen, natürlichen usw. usf. Nationalismus täglich überschwenglicher; im Schatten der Heimathymnen versteigen sich Wirtschaftsjournalisten zu annähernd wörtlichen Paraphrasen der Volkserweckungspropaganda aus den mittleren Dreißigern, aber die rauschhaft schamlose Bösartigkeit ihrer Hetze, die beispielhaft in der Forderung gipfelt, die Menschenwürde solle „vor allem davon abhängen, ob jemand überhaupt arbeitet“, geht unter im Nationalgeschwall.
Und über allem röhren, knattern, donnern die Hubschrauber, ohrenbetäubend, düster allgegenwärtig drohend. Die Nester: bleiben unsichtbar.

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